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»Lass den Schmerz heraus«, sagt Sigfrid leise. »Lass ihn ganz heraus.«

»Was glaubst du, dass ich tue?« Ich drehe mich herum und starre an die Decke. »Ich könnte den Schmerz und die Schuld überwinden, wenn sie es könnte, Sigfrid. Aber für sie ist es nicht vorbei. Sie ist dort draußen und sitzt fest in der Zeit.«

»Weiter, Bob.«

»Jede Sekunde ist immer die neueste Sekunde in ihrem Denken – die Sekunde, in der ich ihr Leben weggeworfen habe, um das meine zu retten. Ich lebe und werde alt und sterbe, bevor sie diese Sekunde hinter sich gebracht hat, Sigfrid.«

»Weiter, Bob. Sprich alles aus.«

»Sie glaubt, ich hätte sie verraten, und sie denkt das jetzt. Damit kann ich nicht leben.«

Es bleibt sehr lange still, dann sagt Sigfrid endlich: »Du tust es, weißt du.«

»Was?« Meine Gedanken sind tausend Lichtjahre entfernt.

»Du lebst damit, Bob.«

»Das nennst du leben?«, sage ich verächtlich, setze mich auf und wische mir die Nase mit einem seiner Tücher ab.

»Du reagierst sehr schnell auf alles, was ich sage, Bob, und deshalb glaube ich manchmal, dass deine Reaktion ein Gegenschlag ist. Du parierst, was ich sage, mit Worten. Lass mich einmal ins Schwarze treffen, Bob. Lass das eindringen: Du lebst wirklich.«

»Na ja, mag sein.« Es ist wahr; nur sehr lohnend ist es nicht.

Wieder eine lange Pause, dann sagt Sigfrid: »Bob. Du weißt, dass ich eine Maschine bin. Du weißt auch, dass meine Funktion darin besteht, mit menschlichen Gefühlen umzugehen. Ich kann Gefühle nicht empfinden. Aber ich kann sie als Modelle nachgestalten, sie analysieren, sie bewerten. Ich kann es für dich, ich kann es sogar für mich tun. Schuld? Etwas sehr Schmerzhaftes, aber weil es schmerzhaft ist, wirkt es als Verhaltenssteuerung. Es kann dich beeinflussen, schulderregende Handlungen zu unterlassen, und das ist wertvoll für dich und die Gesellschaft. Aber du kannst sie nicht einsetzen, wenn du sie nicht spürst.«

»Ich spüre sie doch, Sigfrid, um Gottes willen!«

»Ich weiß, dass du das jetzt zulässt. Es ist alles offen zutage getreten, sodass du es für dich arbeiten lassen kannst, statt vergraben zu sein, wo es dir nur schadet. Dafür bin ich da, Bob. Deine Gefühle ans Tageslicht zu bringen, wo du sie gebrauchen kannst.«

»Selbst die schlimmen? Schuld, Angst, Schmerz, Neid?«

»Schuld. Angst. Schmerz. Neid. Die Motivatoren. Die Modifikatoren. Das, was ich nicht habe, außer im hypothetischen Sinn.«

Wieder eine Pause. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl dabei. Ich glaube, Sigfrid denkt nach, aber nicht über mich. Und endlich sagt er: »Jetzt kann ich auch beantworten, was du mich gefragt hast, Bob.«

»Gefragt? Was war das?«

»Du hast mich gefragt: ›Das nennst du leben?‹ Und ich antworte: Ja. Genau das nenne ich leben. Und in meiner ganz hypothetischen Art beneide ich dich zutiefst darum.«

Jenseits des blauen Horizonts

Es war nicht leicht zu leben, so jung und so völlig allein. »Geh zum goldenen Bereich, Wan, stiehl, was du willst, lerne. Hab keine Angst«, sagten die Toten Menschen zu ihm. Aber wie sollte er keine Angst haben? Die albernen, aber lästigen Alten benutzten die Goldgänge. Man konnte sie dort überall finden, meistens am Ende der Gänge, wo die goldenen Adern der Symbole zum Mittelpunkt der Dinge führten, also genau dort, wohin zu gehen die Toten Menschen ihn unaufhörlich drängten. Vielleicht musste er dorthin, aber er konnte nicht verhindern, dass er sich fürchtete.

Wan wusste nicht, was geschehen würde, wenn ihn die Alten je erwischen sollten. Die Toten Menschen wussten es vermutlich, aber aus dem weitschweifigen Gerede, das sie von sich gaben, konnte er nicht klug werden. Vor langer Zeit einmal, als Wan noch winzig gewesen war – als seine Eltern noch gelebt hatten, so lange war das her –, hatte es seinen Vater erwischt. Er war lange Zeit fort gewesen und dann zu ihrem grün leuchtenden Heim zurückgekommen. Er hatte gezittert, und der zweijährige Wan hatte gesehen, dass sein Vater angsterfüllt war; und Wan hatte geschrien und gebrüllt, weil ihn das so erschreckte.

Trotzdem musste er zum Gold gehen – ob die ernsten Alten mit dem Froschkinn dort waren oder nicht –, weil sich dort die Bücher befanden. Die Toten Menschen waren ganz gut, aber umständlich und empfindlich und oft besessen. Die besten Wissensquellen waren Bücher, und um sie zu holen, musste Wan dorthin gehen, wo sie waren.

Die Bücher befanden sich in den Gängen, die vor Gold glänzten. Es gab andere Gänge, grüne und rote und blaue, aber dort waren keine Bücher. Wan mochte die blauen Korridore nicht, weil sie kalt und tot waren; dort befanden sich auch die Toten Menschen. Das Grün war verbraucht. Wan verbrachte seine meiste Zeit dort, wo die blinkenden roten Spinnweben aus Licht sich an den Wänden ausbreiteten und wo sich in den Behältern noch Nahrung befand; dort wurde er mit Sicherheit nicht gestört, aber er war auch allein. Die goldenen Gänge wurden noch benutzt, waren also noch lohnend und damit auch gefährlich. Und auch jetzt hielt er sich dort auf und fluchte gereizt vor sich hin – aber nur halblaut –, weil er festsaß. Die gottverdammten Toten Menschen! Warum hörte er nur auf ihr Geschwätz?

Er kauerte zitternd in der unzureichenden Deckung eines Beerenstrauches, während zwei der törichten Alten auf der anderen Seite standen, versonnen Beeren pflückten und sie präzise in ihre Froschmünder schoben. Es war an sich ungewöhnlich, dass sie so untätig waren. Zu den Gründen, weshalb Wan die Alten verabscheute, gehörte, dass sie immer beschäftigt waren, immer plapperten, wie gehetzt. Doch jetzt standen diese beiden herum, so untätig wie Wan selbst.

Beide trugen schüttere Bärte, einer besaß dazu noch Brüste. Wan erkannte sie als eine Frau, die er schon ein Dutzend Mal gesehen hatte; sie war diejenige, welche sich besonders damit hervortat, farbige Stücke aus irgendeinem Material – Papier? Kunststoff? – auf ihren Sari oder manchmal auf ihre fahle, fleckige Haut zu kleben. Er glaubte nicht, dass sie ihn sehen würden, war aber trotzdem sehr erleichtert, als sie sich nach einiger Zeit gemeinsam umdrehten und davongingen. Sie sagten nichts. Wan verstand auch nichts, wenn er die ernsten alten Froschgesichter reden hörte. Er sprach sechs Sprachen gut – das Spanisch seines Vaters, das Englisch der Mutter, das Deutsch, das Russisch, das Kanton-Chinesisch und das Finnisch der Toten Menschen. Aber wenn die Froschgesichter redeten, verstand er kein Wort.

Sofort, als sie sich durch den goldenen Gang entfernt hatten – rasch, hin, zupacken! Wan hatte drei Bücher und war fort, in einem roten Korridor wieder in Sicherheit. Es war möglich, dass die Alten ihn gesehen hatten. Sie reagierten nicht schnell. Deshalb hatte er sie so lange meiden können. Ein paar Tage in den Gängen, und schon war er wieder fort. Bis sie dahinter kamen, dass er da gewesen war, war er bereits wieder auf dem Schiff.

Er brachte die Bücher in einem Tragekorb voll Nahrungspäckchen zum Schiff zurück. Die Antriebs-Akkus waren fast ganz aufgeladen. Er konnte davonfliegen, wann er wollte, aber es war besser, sie noch vollständig aufzuladen, und er glaubte nicht daran, dass er sich beeilen musste. Er brachte fast eine Stunde damit zu, für die mühsame Reise Plastikbeutel mit Wasser zu füllen. Wie bedauerlich, dass es im Schiff keine Lesegeräte gab, um die Langeweile zu vertreiben! Als ihm die Arbeit zu viel wurde, beschloss er, den Toten Menschen Lebewohl zu sagen. Sie mochten antworten oder auch nicht, ja, sich nicht einmal um ihn kümmern. Aber sonst hatte er niemanden, mit dem er sprechen konnte.

Wan war fünfzehn Jahre alt, groß gewachsen, mager, von Natur schon dunkelhäutig, dunkler noch durch die Lampen auf dem Schiff, wo er so viel Zeit verbrachte. Er war kräftig und selbständig. Er musste es sein. In den Behältern lag immer Nahrung, und es gab andere Dinge, die er nur zu nehmen brauchte, wenn er es wagte. Ein- oder zweimal im Jahr, wenn sie daran dachten, packten die Toten Menschen ihn mit ihrer kleinen beweglichen Maschine und brachten ihn in eine Zelle in den blauen Gängen, einen langweiligen Tag lang, in dessen Verlauf er sehr gründlich untersucht wurde. Manchmal bekam er eine Zahnfüllung, gewöhnlich erhielt er lang wirkende Vitamin- und Mineralienspritzen, und einmal hatte er eine Brille zugeteilt bekommen. Aber er weigerte sich, sie zu tragen. Sie erinnerten ihn auch daran, dass er – wenn er das zu lange vernachlässigte – studieren und lernen musste, sowohl von ihnen wie aus den Büchern. Er brauchte nicht oft daran erinnert zu werden. Das Lernen machte ihm Spaß. Abgesehen von diesen Dingen blieb er sich völlig selbst überlassen. Wenn er Kleidung brauchte, ging er in den goldenen Bereich und stahl sie den Alten. Wenn er sich langweilte, erfand er eine neue Beschäftigung. Ein paar Tage in den Gängen, ein paar Wochen im Schiff, noch ein paar Tage an dem anderen Ort, dann fing er wieder von vorne an. Die Zeit verging. Er hatte keine Gesellschaft und auch keine gehabt, seitdem er vier Jahre alt gewesen war und seine Eltern verschwunden waren. Er hatte auch beinahe vergessen, wie es war, einen Freund zu haben. Es störte ihn nicht. Sein Leben erschien ihm durchaus vollständig, weil er kein anderes kannte, mit dem er es hätte vergleichen können.