»Wenn du mit den Toten Menschen unmittelbar sprechen könntest, wäre es vermutlich leichter für dich.«
»Klare Sache, Bob. Und ich stehe im Begriff, einen solchen Zugang über den Herter-Hall-Bordcomputer zu erbitten, aber das erfordert eine sorgfältige Vorarbeit. Der Bordcomputer ist nicht besonders gut, Robin.« Er zögerte. »Ähm, Robin? Da ist noch ein interessanter Punkt.«
»Nämlich?«
»Wie Sie wissen, waren an der Nahrungsfabrik mehrere große Schiffe angedockt, als man sie entdeckte. Die Fabrik steht seither unter ständiger Beobachtung, und die Zahl der Schiffe ist gleich geblieben – nicht gerechnet das Herter-Hall-Schiff und dasjenige, mit dem Wan vor zwei Tagen eintraf, versteht sich. Aber es ist nicht gewiss, dass es immer noch dieselben Schiffe sind.«
»Was?«
»Es ist nicht gewiss, Robin«, betonte er. »Ein Hitschi-Schiff sieht wie das andere aus. Aber die genaue Überprüfung der Anflugaufnahmen scheint zumindest bei einem der großen eine andere Ausrichtung zu zeigen. Möglicherweise bei allen dreien. So, als wären die vorher anwesenden Schiffe abgeflogen und hätten anderen Platz gemacht.«
An meinem Rückgrat glitt ein kalter Finger auf und ab.
»Albert«, sagte ich nervös, »weißt du, was das bei mir an Überlegungen auslöst?«
»Klare Sache, Robin«, erwiderte er ernsthaft. »Es löst die Überlegung aus, dass die Nahrungsfabrik noch immer arbeitet. Dass sie die Kometengase in CHON-Nahrung verwandelt. Und sie irgendwo hinschickt.«
Ich schluckte mühsam, aber Albert sprach weiter.
»Außerdem findet sich in der Umgebung sehr viel ionisierende Strahlung«, sagte er. »Ich muss einräumen, dass ich nicht weiß, woher sie kommt.«
»Ist das für die Herter-Halls gefährlich?«
»Nein, Robin, das nehme ich nicht an. Nicht mehr als Piezovision-Sendungen für Sie etwa. Es ist nicht das Risiko, was mir Kopfzerbrechen macht, sondern die Quelle.«
»Kannst du nicht die Herter-Halls bitten nachzuforschen?«
»Klare Sache, Robin. Das habe ich schon getan. Aber es wird fünfzig Tage dauern, bis die Antwort eintrifft.«
Ich ließ ihn verschwinden und lehnte mich in meinem Sessel zurück, um über die Hitschi und ihre seltsame Art nachzudenken …
Und dann kam es.
Meine Schreibtischsessel bieten normalerweise maximale Bequemlichkeit und Sicherheit, aber diesmal kippte ich beinahe um damit. In Sekundenbruchteilen bekam ich Schmerzen. Nicht nur Schmerzen, mir war schwindlig, ich wusste kaum, wo ich mich befand, ich halluzinierte sogar. Mein Kopf fühlte sich an, als wolle er platzen, und meine Lunge schien von Flammen versengt zu werden. Ich war geistig und körperlich noch nie so krank gewesen, und gleichzeitig ertappte ich mich dabei, dass ich unglaubliche Kunststücke auf dem Gebiet der Sexualakrobatik zusammenphantasierte.
Ich versuchte aufzustehen und konnte nicht. Ich sank völlig hilflos in den Sessel zurück.
»Harriet!«, krächzte ich. »Einen Arzt!«
Sie brauchte volle drei Sekunden, um zu reagieren, dann waberte ihr Bild stärker als das von Morton.
»Mr. Broadhead«, sagte sie mit einem merkwürdigen Ausdruck der Sorge, »ich kann das nicht erklären, aber die Schaltungen sind alle besetzt. Ich … ich … ich …« Es war nicht nur ihre Stimme, die sich unaufhörlich wiederholte. Ihr Kopf und der Körper wirkten wie ein kurzes Video-Endlosband, immer wieder begann dasselbe Wort, immer wieder schaltete das Bild mitsamt dem Ton zurück und fing von neuem an.
Ich fiel vom Sessel auf den Boden, und mein letzter klarer Gedanke war:
Das Fieber.
Es war wieder da. Schlimmer, als ich es je zuvor verspürt hatte. Schlimmer vielleicht, als ich es durchstehen konnte, so schmerzhaft, so Furcht erregend, psychotisch fremdartig, dass ich nicht sicher war, ob ich es überhaupt durchstehen wollte.
Nach dreieinhalb Jahren in einem photonengetriebenen Raumschiff unterwegs zur Oort’schen Wolke war Janine nicht mehr das Kind wie beim Abflug. Sie hatte nicht aufgehört, ein Kind zu sein. Sie hatte nur das erste Reifestadium erreicht, in welchem das Individuum erkennt, dass es noch viel Wachstum hinter sich bringen muss. Janine hatte es nicht eilig, erwachsen zu werden. Sie arbeitete einfach daran, das zu bewältigen. Jeden Tag. Die ganze Zeit. Mit allen Mitteln, die sich anboten.
Als sie am Tag der Begegnung mit Wan die anderen verlassen hatte, suchte sie nicht bewusst irgendetwas Bestimmtes. Sie wollte einfach allein sein. Nicht zu irgendeinem wirklich privaten Zweck. Nicht einmal – oder nicht nur – weil sie ihrer Familie überdrüssig war. Was sie wollte, war etwas, das ihr allein gehörte, eine nicht mit anderen zu teilende Erfahrung, eine Einschätzung, die nicht durch stets anwesende Erwachsene gestützt wurde; sie wollte Anblick, Gefühl und Geruch des Fremden in der Nahrungsfabrik, und sie wollte das alles für sich allein.
So stieß sie sich aufs Geratewohl ab und schwebte durch die Gänge, von Zeit zu Zeit aus einer Quetschflasche Kaffee saugend. Oder was für sie »Kaffee« zu sein schien. Janine hatte die Gewohnheit von ihrem Vater übernommen, obwohl sie, wäre sie gefragt worden, bestritten hätte, dergleichen sei bei ihr möglich.
Alle ihre Sinne dürsteten nach Zufuhr. Die Nahrungsfabrik war das wundersam Erregendste, was ihr je zugestoßen war. Noch in höherem Maß als der Start, bei dem sie ein bloßes Kind gewesen war. Mehr noch als das befleckte Höschen, das verkündet hatte, sie sei eine Frau geworden. Mehr als alles andere. Selbst die nackten Wände der Tunnels waren aufregend, weil sie aus Hitschi-Metall bestanden, unendlich alt waren und immer noch mit dem schwachen, bläulichen Licht strahlten, das ihre Erschaffer ihnen mitgegeben hatten. (Welche Art von Augen hatten dieses Licht gesehen, als alles neu gewesen war?) Sie stieß sich mühelos von Kammer zu Kammer, und nur ihre Fußballen berührten überhaupt den Boden. In diesem Raum gab es Wände mit gummiartigen Regalen (was hatten sie einmal enthalten?), in jenem hockte ein riesiges Kugelsegment, Spiegelchrom nach außen, seltsam pulvrig bei Berührung – wozu diente das? Bei manchen Dingen konnte sie etwas erraten. Das Ding, das wie ein Tisch aussah, war ganz gewiss ein Tisch. (Die Umrandung diente zweifellos dazu zu verhindern, dass in der niedrigen Schwerkraft der Nahrungsfabrik etwas vom Tisch glitt.) Manche Gegenstände waren durch Vera für sie identifiziert worden, unter Benützung der Informationsspeicher über Hitschi-Artefakte, von den großen Datenquellen zu Hause auf der Erde katalogisiert. Die Zellen mit spinnwebartigen grünen Geflechten an den Wänden waren, wie man annahm, für Schlafzwecke benutzt worden; aber wer konnte schon wissen, ob die dumme Vera Recht hatte? Egal. Die Gegenstände selbst waren ungeheuer aufregend. Nicht anders als ringsum der viele Raum, in dem man sich bewegen konnte. Sogar verirren mochte. Bis sie nämlich die Nahrungsfabrik erreicht hatten, war Janine in ihrem ganzen Leben kein einziges Mal die Gelegenheit geboten worden, sich zu verirren. Bei dem Gedanken verspürte sie ein Kitzeln angstvoller Freude. Zumal da der ganz erwachsene Teil ihres vierzehnjährigen Gehirns sich stets der Tatsache bewusst war, dass, gleichgültig, wie sehr sie sich verirrte, die Nahrungsfabrik einfach nicht groß genug war, um sich in ihr für immer zu verirren.
Es war also ein ungefährlicher Kitzel. Oder schien einer zu sein.
Bis sie bei den Docks auf der anderen Seite in der Falle saß, während irgendetwas – Hitschi? Raummonster? Ein irrer, alter Schiffbrüchiger mit einem Messer in der Hand? – aus den verborgenen Gängen ihr entgegenkam.