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Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich- Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des Dionysischen in den naturalistischen Affect wahrzunehmen hatten. Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen: denn wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung treiben muss — bis zum Todessprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze:»Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche«: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der» poetischen Gerechtigkeit «mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt.

Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der ganze musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie? Als etwas Zufälliges, als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der Tragödie; während wir doch eingesehen haben, dass der Chor nur als Ursache der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden kann. Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des Chors — ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt sein Bereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielern coordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die Scene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen. Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragödie: d. h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt.

Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute: die wir doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss die allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob die Geburt eines» künstlerischen Sokrates«überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei.

Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte:»Sokrates, treibe Musik!«Er beruhigt sich bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit ihn an jene» gemeine, populäre Musik «erinnern werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer Gottheit zu versündigen — durch sein Nichtsverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht — so musste er sich fragen — ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?

15.

Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun ausgesprochen werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat, wie derselbe zur Neuschaffung der Kunst — und zwar der Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne — immer wieder nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt.

Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, den Griechen von Homer bis auf Sokrates, überzeugend dargethan war, musste es uns mit diesen Griechen ergehen wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat einmal sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien gesucht, weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben zu verlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur zusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal der herzliche Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor das sich erkühnte, alles Nichteinheimische für alle Zeiten als» barbarisch «zu bezeichnen: wer sind jene, fragt man sich, die, obschon sie nur einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte aufzuweisen haben und sogar mit hässlichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die Würde und Sonderstellung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die dem Genius unter der Masse zukommt? Leider war man nicht so glücklich den Schierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen einfach abgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid, Verläumdung und Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und fürchtet man sich vor den Griechen; es sei denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen haben, dass aber fase immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie ihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten, ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen: über den sie selbst, mit dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen.

Um die Würde einer solchen Führerstellung auch für Sokrates zu erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen, über dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unsere nächste Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann müsste es ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei, welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt. Wenn jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesem directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu finden oder Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniss der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welchees eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist.