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Die Geschichte von Atlantis  

I  Ein Reiter, der nach Westen zeigt 

Zuerst zeigten sich die Möwen. Sie kreisten hinter der Insel über einem unsichtbaren Abschnitt des Ufers, gingen im Sturzflug aufs Wasser nieder und stiegen wieder hoch.

Wenn ein Dampfer kommt, geben sie ihm stets das Geleit, bis er festmacht. So war es auch an jenem Junitag. Zweimal puffte lautlos ein Rauchwölkchen in die Luft und zerflatterte über dem Kap. Sekunden später — als schon jeder glaubte, das Heulen der Sirene sei verhallt, ohne den Hafen erreicht zu haben — hörte man zwei kurze Signalstöße. „Das wird wohl die ,Maria Uljanowa' sein", meinte jemand unsicher und fügte vorsichtshalber hinzu: „Oder die ,Spartak'."

„Warum nicht die ,Lena'?" erklang es spöttisch aus der Menge, die sich an der Anlegestelle eingefunden hatte. „Wer weiß, vielleicht ist es auch die ,Salichard'?"

Der erfolglose Rater, ein langarmiger Bursche in hohen Lederstiefeln, stieß mit gewohnter Bewegung die Mütze in den Nacken. Auf seiner Segeltuchjacke glänzten trockene Fischschuppen. Vor den Schaulustigen stand der Hafenmeister. „Die ,Spartak'", entschied er, ohne den Kopf zu drehen.

Er war die Hauptperson hier, körperlich nicht übermäßig groß geraten, aber wenn man ihn so dastehen sah in seinem funkelnagelneuen Kittel und mit der gewichtigen Tabakspfeife, deren zernagtes Mundstück aus der einen Tasche lugte, wußte man sofort: Dieser Mensch besitzt die Macht, jedermann von der Landungsstelle zu verweisen, und braucht dabei nicht mal das von der Rasierklinge zerschundene Kinn in den hochgeschlagenen Kragen zu ziehen. Aber er jagte niemand davon, reckte sich nur noch gebieterischer in die Höhe und schaute noch gestrenger drein. Der Hafenmeister zählte neunzehn Jahre.

Hinter dem Kap kam ein Dampfer hervor. Aus dem Jenissei bog er in die breite Mündung der Tunguska ein. Nur vier Monate des Jahres sind die beiden Flüsse schiffbar. Dieser Dampfer wurde als erster nach dem langen Winter erwartet. Seine Fahrt verzögerte sich, weil er die letzten Eisschollen aus dem Weg stoßen mußte. Nach jedem Anlegen wurden seine Laderäume leerer. In den Häfen oder auch einfach am nackten, stufenförmigen Ufer, wo immer es einen Aufenthalt gab, hatte sich zu seinem Empfang eine große Menschenmenge eingefunden.

Mit dumpfem Knarren lehnte sich der Dampfer gegen die Anlegestelle, kam zum Stehen, schnaufte, prustete und hüllte die Wartenden in einen Duft von brutzelndem Fett und warmen Speisen.

Als erster begab sich der Hafenmeister an Bord. Ihm nach drängten, sich gegenseitig schubsend, die übrigen Leute. Gefäße klapperten, dumpf polterten Stiefel auf den Brettern. Dieser und jener hatte dienstlich auf dem Schiff zu tun, die meisten gingen in eigener Angelegenheit hinüber. Manche waren gekommen, um Bier oder Mandarinen einzukaufen, sie hatten Eimer und Beutel mitgebracht. Andere besaßen unter der Schiffsmannschaft einen Bekannten, den sie besuchen wollten. Es gab auch welche, die nur ein wenig über Deck bummeln oder in der Kantine an einem weißgedeckten Tisch sitzen wollten und sich nach den vielen Werkküchenkoteletts, die sie während der langen Winterszeit gründlich satt bekommen hatten, einmal etwas Teures und Pikantes leisten. In Wahrheit freilich gab es für das Erscheinen all der zahlreichen Besucher nur einen Hauptgrund. Sie waren gekommen, weil es sich einfach gehörte, daß man den ersten Dampfer empfing wie einen sehnlich erwarteten Gast: mit viel Lärm und Hallo.

Der Bursche in der Segeltuchjacke war als erster zum Büfett vorgedrungen. Jetzt bahnte er sich bereits einen Weg zurück, mehrere Schachteln „Belomor" in der erhobenen Rechten. Heute war er bei Tagesanbruch aus den Federn gekrochen, sodann achtzehn Kilometer weit gerudert, um endlich einmal etwas anderes als Machorka rauchen zu können.

Allmählich wurde es stiller. Die Gäste verliefen sich. Viele standen in den Gängen oder saßen in den Salons. Die ersten Passagiere gingen an Land. Es waren insgesamt vier, unter ihnen ein Mann im Regenumhang, eine Kartentasche an der Seite. Er stieg das steile Ufer hinan, stellte, oben angekommen, seinen Koffer ab und setzte sich darauf. Dann nahm er die Mütze vom Kopf, fuhr sich durch das graumelierte Haar, rieb sich das stopplige Kinn.

„Ungekämmt, unrasiert", machte er seinem Herzen Luft, „wie ein ungepflegter Köter. Pfui Teufel!" Zwei Jungen, die am Rand des Hanges saßen, lachten. Der Mann auf dem Koffer kniff die Brauen zusammen. „Was gibt's da zu feixen?"

„Nichts", antworteten die Kinder.

„Schon lange demobilisiert?" scherzte der Reisende mit ernstem Gesicht und zeigte auf das gestreifte Matrosenhemd, das der eine Junge unter der Jacke trug.

„Schon eine ganze Weile", erwiderte der Gefragte, bemüht, auf den Ton des Erwachsenen einzugehen. „Dann verrate mir mal, wie ich zum Lager der Expedition komme."

Der Junge wies mit einer lässigen Armbewegung die Richtung. „Dort lang. Bis zum Badehaus. Dann links halten."

„Somit wäre der Fall klar", sagte der Mann. „Wenn ich nun noch wüßte, wo das Badehaus steht, könnte ich nicht fehlgehen."

Die Jungen brachen erneut in Lachen aus. Der Reisende wartete ihre Auskunft nicht ab, ergriff seinen Koffer und schritt die Straße hinunter.

Kurze Zeit darauf näherte sich ein Mann in Pelzjacke. Er hatte einen großen Korb auf den Rücken geschnallt und trug einen mit Stricken umschnürten Ballen auf der Schulter. In der Rechten hielt er einen Beutel, an die Linke klammerte sich seine Tochter, die zwölf Jahre alt sein mochte. Mit einem Blick auf die Jungen, vor Anstrengung keuchend, erkundigte sich der Ankömmling ebenfalls nach dem Weg zum Lager der Expedition.

Neben ihm stand mit erhobenem Kinn das Mädchen und sah zur Seite. Den beiden Jungen hatte sofort mißfallen, daß sie überhaupt kein Gepäck trug und nicht einmal den Versuch unternahm, ihrem schwer beladenen Vater zu helfen. Hinzu kam die geringschätzige Miene, die sie aufgesetzt hatte, während ihre Blicke umherspazierten — grad so, als wären die beiden Jungen Luft — und ihr dicker, blonder Zopf, der von einem grünen Band umschlungen angeberisch auf der wattierten Jacke lag. Gründe genug, um verächtlich die Nase zu rümpfen. Lange sahen die Jungen Vater und Tochter nach, und als das Mädchen auf dem Holzpflaster ins Stolpern kam, sagte der im Matrosenhemd absichtlich laut: „So eine Kuh! Läßt sich anfassen und stolpert noch."

Die „Kuh" hielt es für unter ihrer Würde, sich umzudrehen, verlangsamte jedoch den Schritt. Da wußte der Junge, daß sie seine Worte gehört hatte. Als letzter kam ein junger Mann das Ufer heraufgeklettert. Er hatte seinen Mantel über den Arm gelegt und betrachtete mitleidig die hellgrauen Schuhe, die schon arg zerkratzt waren. Als er stehenblieb, musterten die Jungen verwundert seine auffällige Kleidung. Der Ankömmling trug Seidenhemd und Krawatte. In der rechten Hand hielt er eine runde, mit roter Schnur umwickelte Reisetasche, die aussah wie ein kleines Faß.

Kurz und gut — in der hiesigen Umgebung nahm sich dieser Mensch recht sonderbar aus. Sein Aufzug paßte gar nicht zu den vom Regenwasser dunkel gefärbten Stämmen, die am Ufer aufgestapelt waren, zu den knarrenden Holzgehsteigen, dem grünen, gezackten Rand der Taiga, die dort begann, wo die breite, mit Pfützen übersäte Straße aufhörte.

Todsicher war der flotte junge Mann mit den dunklen Haaren fremd in dieser Gegend.

Wäre er ein Gedankenleser gewesen, hätte er den erstaunten Kindern wahrscheinlich folgendes erklärt: Ich trage diese Schuhe nicht, um Eindruck zu schinden, sondern aus dem einfachen Grunde, weil ich keine anderen habe. Ja, und euer altertümliches Holzstädtchen gefällt mir trotz der vielen Pfützen recht gut. Was wollt ihr sonst noch wissen? Daß ich erst dreiundzwanzig Jahre bin? Und ziemlich aufgeregt, weil für mich nun ein Leben beginnt, das wesentlich anders sein wird als alles, was bisher war?