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Äußerlich fiel der Direktor durch eine ungewöhnliche Leibesfülle auf, die, wie es hieß, von einer Krankheit herrührte. Nach einem ungeschriebenen Gesetz haben dicke Menschen meist ein goldenes Herz, so auch Piaton Jakarlewitsch, der Direktor dieser Schule. Als er erfuhr, daß Dimka Polujanow ihn heimlich die „Seifenblase" nannte, war er ehrlich betroffen. Der Übeltäter wurde zu ihm bestellt und belehrt, daß es ehrlos, ja geradezu schändlich sei, jemand wegen seiner körperlichen Mängel zu verspotten. Dimka gab bereitwillig das Versprechen ab, nie mehr gemein zu handeln. Der Spitzname haftete jedoch an dem Direktor wie eine Klette. Er ging von Mund zu Mund.

Wenn Petkas Mutter von einem Gespräch mit dem Schulleiter zurückkam, war sie jedesmal beruhigt, ihr Zorn aber noch nicht völlig verraucht.

„Was seid ihr bloß für Esel!" schimpfte sie. ,,Du und dein Dimka. Der Direktor hat einen klugen Kopf. Dabei ist er eine Seele von Mensch. Und ihr macht euch über ihn lustig. Wie kann man sich nur an andrer Leute Leid ergötzen!" Wenige Sekunden später lachte sie selber. ,,Na ja", lenkte sie verlegen ein, „dick ist er ja, das stimmt schon, entsetzlich dick."

Diesmal kam der Direktor nicht allein.

Er sagte: „Von heute an habt ihr einen neuen Physiklehrer — Viktor Nikolajewitsch Rjabzew. Viktor Nikolajewitsch wird zugleich euer Klassenleiter sein." Bei den letzten Worten blickte er Petka an. Dann nickte er bedeutsam und ging wieder hinaus.

Kein Wort über den geschwänzten Unterricht. Es dauerte eine Weile, bis Petka sein Glück begriffen hatte. Doch als ihm endlich zum Bewußtsein kam, daß die Geschichte wahrscheinlich im Sande verlaufen würde, fiel sein Blick zufällig auf die Füße des neuen Lehrers, und da durchzuckte ihn aufs neue ein heftiger Schreck. Die Schuhe, die Viktor Nikolajewitsch trug, waren weißlich grau.

„Also Freunde, machen wir uns miteinander bekannt."

Während Viktor Nikolajewitsch sprach, runzelte er die Stirn und gab sich überhaupt die größte Mühe, sicher aufzutreten und erwachsen zu wirken. Jedoch konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, daß der neue Lehrer noch sehr jung war. Offenbar war er frisch vom Institut gekommen. Vielleicht sollte dies sogar seine erste eigene Unterrichtsstunde werden. Da die Kinder sofort merkten, was sie von der gestrengen Amtsmiene zu halten hatten, begannen sie ungeniert zu kichern. Allgemeine Heiterkeit hielt ihren Einzug, fein ernstes Gesicht bewahrte lediglich Sonja, das gewissenhafte Mustermädchen auf der ersten Bank. Sie kramte ihr Heft aus der Tasche, strich den Namen der ehemaligen Lehrerin durch und schrieb auf die erste Seite: „Physik bei Viktor Nikolajewitsch Rjabzew."

Der Lehrer schlug das Klassenbuch auf.

„Juri Alenow." 

„Hier", meldete sich Jurka, ohne den Lehrer anzusehen.

„Pjotr Issajew."

Petka stand langsam auf, so langsam, daß der Lehrer Zeit genug hatte, ihn ein zweites Mal aufzurufen und zu fragen: „Fehlt Issajew heute?"

„Nein", meldete sich Petka. „Hier!"

Der Lehrer blickte den Schüler an, sah sein schwarzes Borstenhaar, im Jackenausschnitt den oberen Rand des Matrosenhemdes und erinnerte sich an die gestrige Begegnung. Da wurden sie beide verlegen.

Wie am Vortage fühlte Viktor Nikolajewitsch, daß er errötete und sich beim besten Willen nicht zusammenreißen konnte. Rot werden, vor der ganzen Klasse, wegen eines dummen Jungen — das geht doch nicht, versuchte er sich einzureden, aber sein Gesicht färbte sich nur noch dunkler. Zu guter Letzt stand er auf und trat wie in Gedanken ans Fenster, um seine Verwirrung zu verbergen. Doch war auch das keine glückliche Lösung. Petka schien zu einer Salzsäule erstarrt. Mit dem feinen Gefühl des Kindes erriet er, in welcher Verfassung sich der neue Lehrer befand. Aus seinen Augen war das Entsetzen gewichen. Belustigt blickte er auf die Gestalt am Fenster.

Von allen übrigen begriff nur Jurka, was zwischen Petka und Viktor Nikolajewitsch vorging. Mit gekrümmtem Rücken und gesenkten Augen saß er auf seinem Platz, hoffend, nicht erkannt zu werden.

„Setz dich hin, was stehst du da!" brauste der Lehrer auf. 

„Sie haben mir noch nicht erlaubt, mich zu setzen", erwiderte Petka höflich.

Hinter dieser Höflichkeit verbargen sich Triumph und eine Schadenfreude, die Viktor Nikolajewitsch unbegreiflich war.

So kam es, daß Petka seinem neuen Lehrer ein Dorn im Auge wurde. Was fiel dem Bengel ein, den starken Mann zu spielen! Bei aller Selbstsicherheit trat Petka jedoch nicht unverschämt genug auf, um dafür gemaßregelt zu werden. Viktor Nikolajewitsch wußte sehr gut, daß seine Autorität und ein freundschaftliches Verhältnis zur Klasse nicht zuletzt davon abhingen, wie er mit solchen Jungen fertig wurde. Er war bereit, jeden einzelnen ins Herz zu schließen, damit auch sie ihn alle in das ihre schlössen. Voller Erregung, mit frohen Erwartungen war er zu seiner ersten Stunde geschritten. Und vor den Kopf gestoßen worden. Er fühlte sich tief gekränkt.

Eilig setzte er die Kontrolle der Anwesenheit fort und begann danach den Unterricht. Aber bis die Klingel den Schluß der Stunde anzeigte, spürte Viktor Nikolajewitsch Petkas unfreundlichen Blick. Das machte ihn unsicher und nervös. In seiner Zerfahrenheit wischte er die Tafel mit der Hand ab, obwohl für diesen Zweck ein Lappen bereit lag.

In der Pause sprach ihn das Mustermädchen Sonja an. Das geschah auf dem Flur. „Viktor Nikolajewitsch", sagte Sonja mit einem Blick aus ihren runden, ehrlichen Augen, „Petka Issajew und Jurka Alenow haben gestern die beiden letzten Stunden geschwänzt."

„Weshalb erzählst du mir das?"

„Sie sind doch der neue Klassenleiter. Unsererfrüheren Lehrerin habe ich immer alles mitgeteilt, was die Schüler taten."

„Der früheren Lehrerin", wiederholte Viktor Nikolajewitsch zerstreut.

„Ja, freilich", bestätigte das Mädchen Sonja. „Sie ist fortgefahren, weil sie eine zu kalte Wohnung hatte."

„Na schön", entgegnete Viktor Nikolajewitsch. „Mich jedenfalls wirst du mit solchen Mitteilungen in Zukunft verschonen. Ich will desgleichen nicht wieder hören. Weder ich noch irgendein anderer." Es klang sehr bestimmt. „Hast du mich verstanden?"

„Ja, freilich." Sonja nickte. „Aber warum wollen Sie es nicht hören?"

„Weil es gemein ist. Darum. Man tut so etwas nicht. Als ich noch die Schule besuchte... Weißt du, wie wir mit einer Petze umgesprungen sind? Der ging's dreckig, das kannst du mir glauben", sprudelte er hitzig hervor.

„Mich verhauen sie auch, wenn sie es erfahren", meinte Sonja demütig, „aber es weiß ja niemand."

Viktor Nikolajewitsch sah das Mädchen vor ihm an. Für einen Augenblick glaubte er, daß sie sich über ihn lustig machte. Ihr Gesicht blieb jedoch völlig ernst. Nein, natürlich, sie hatte nur gesagt, was sie dachte. „Also, was willst du?" fragte er. „Ich? Nichts. Nur — die frühere Lehrerin..." 

„Ich glaube, daß du deine frühere Lehrerin mißverstanden hast", fiel er ihr ins Wort. „Du hast dich geirrt, das ist alles. Lauf jetzt nach Hause und vergiß nicht, daß in der Klasse deine Freunde sitzen. Deine Freunde! Daran mußt du denken, dann wirst du alles begreifen." 

Viktor Nikolajewitsch ging ins Lehrerzimmer und schloß die Tür hinter sich.

Das Mädchen starrte ihm verständnislos nach. 

III  Das versunkene Inselreich (Aus dem blauen Heft)

„Im Westen hört die Ebene auf. Am Fuße der Steilwand beginnt das Meer.