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Sämtliche Gesuche, die er an die Verwaltung gerichtet hatte, waren mit abschlägigem Bescheid zurückgekommen. Pawel fühlte sich vor den Kopf gestoßen, wurde indes nicht müde, immer wieder neue Anträge zu schreiben.

Wenn die Matrosen sahen, wie er in der Nähe des Hafens gegen die Wellen kämpfte, um sich abzuhärten und nicht mehr seekrank zu werden, lachten sie über ihn. Er blieb unverdrossen, wartete nur bis zum nächsten Sturm, um sich erneut in die Wogen zu stürzen. 

„Also kein Wort, daß du mich gesehen hast."

„Ich bin stumm wie ein Fisch."

„Dann laß dir's gut gehn. Und wenn du wieder zum Hafen kommst, vergiß die Angel nicht. Ich werde dafür sorgen, daß sie dich in Ruhe lassen", rief Pawel, schon vom Fluß her.

„In Ordnung", schrie Jurka zurück. Er mußte an den Matrosen von vorhin denken und lächelte. Nein, das Tor zum Angelplatz war jetzt zugeschlagen. Jurka schritt am Ufer entlang und pfiff vor sich hin. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont verkrochen. Über der Stelle, wo sie versunken war, hingen glutrote Wolken. 

V  Noch einmal in der Schule

Oberhalb des Ufers drängten sich die Häuser, als wären sie von weither gelaufen gekommen und hätten vor dem Hang ängstlich haltgemacht. Dazwischen schimmerte in kurzen Streifen der Jenissej hindurch. Die Fenster des Klassenzimmers standen sperrangelweit offen. Der Fluß hallte wider vom Stöhnen der Schiffssirenen. Dort trieben Lastkähne und Flöße stromab. Langsam bahnten sich die Tanker durchs Wasser einen Weg. Raddampfer zerhämmerten mit ihren Schaufeln das Spiegelbüd der Wolken in viele kleine Splitter. Unaufhaltsam ging es weiter — in die Igarka, in die Dudinka, ins Meer.

Durch die Straßen schlichen Hunde, trunken von der Hitze.

Ein ungewöhnlicher Sommer hatte in Ust-Kamensk Einzug gehalten.

Petkas Platz war in der Fensterreihe. Die Sonne brannte ihm auf den Pelz. Aus weiter Ferne schlugen die Worte des Lehrers an sein Ohr. Viel deutlicher war das hohe, aufreizende Kreischen zu hören, das von der Sägemühle herüberklang. 

Vor Petka saßen Dimka und Jurka Alenow. Jurkas Gesicht war nicht zu sehen, aber an der Art, wie er den Rücken krümmte und zusammenfuhr, sobald der Lehrer die Stimme hob, erkannte Petka, daß sein Freund schmökerte. Jurka preßte das Buch von unten her gegen die Bankplatte, so daß durch den Klappenspalt immer nur zwei, drei Zeilen zu sehen waren. Offenbar machte es ihm nichts aus, daß er nachher alles noch einmal zusammenhängend lesen mußte. Bei Büchern hatte Jurka eine glückliche Hand. Die er mitbrachte, waren immer interessant, selbst wenn sie zeilenweise gelesen wurden.

Petka seufzte. Er durchsuchte seine Taschen. Sie waren leer. Mutter hatte die Hose gestern gewaschen und vorher alles herausgenommen. Petka betrachtete die Decke. Wie glatt sie war. Weiß in weiß, ohne Risse. Langweilig.

Mit gewohnter Sicherheit streckte er die Hand aus, erwischte die Haarschleife seiner Nachbarin und zog daran. Jeder Griff saß. Petka brauchte nicht einmal hinzuschauen. Die frühere Lehrerin hatte Sonja neben ihn gesetzt, damit das Mädchen einen günstigen Einfluß auf ihn ausübte. Aber das war zuviel verlangt. Sonja hatte vor Petka Angst. Wortlos rückte sie ab und ging daran, sich den Zopf wieder zu flechten. Wie gebannt hing ihr Blick an den Lippen des Lehrers.

Petka jammerte in sich hinein: Ist das langweilig! Schließlich hielt er es nicht mehr aus, richtete sich halb auf und blickte Jurka über die Schulter. Was mochte der wohl lesen?

„Issajew!"

Natürlich, man brauchte nur den kleinen Finger zu rühren, schon war man aufgefallen.

Die anderen wurden auch zur Ordnung gerufen, aber Petka konnte schwören: nicht halb so häufig wie er.

Außerdem hatte er den Eindruck, daß Viktor Ni-kolajewitsch seinen Namen mit heimlicher Gehässigkeit aussprach: ,,I-ssa-jew", abgehackt, jede Silbe für sich. Dafür rächte sich Petka, indem er stets einen gewollt rauhen Ton anschlug. Alles an dem neuen Lehrer war ihm zuwider, seine verstohlenen Blicke nach dem Heft mit den Unterrichts Vorbereitungen, das aufgeschlagen vor ihm lag, die Brille, die er immer dann aufsetzte, wenn er wütend war, seine Art zu sprechen: übertrieben deutlich und gewählt. Allerdings vermochte Petka nicht zu sagen, weshalb ihm der eine oder andere Zug an Viktor Nikolajewitsch mißfiel. Er konnte ihn eben nicht leiden, das war alles.

Natürlich wußte der Lehrer, woran er mit Petka war. Da er Offenheit über alles schätzte, hätte er den aufsässigen Schüler am liebsten beiseite genommen und rundweg gefragt: „Hör mal, Issajew, was habe ich dir eigentlich getan?" Eine Aussprache schien um so dringlicher, als ihn die scheelen Blicke des Jungen bei der Arbeit störten. Jedoch war Viktor Nikolajewitsch überzeugt, daß er nur wieder eine Grobheit hören würde. Darum fragte er Petka gar nicht erst. Voll Neid dachte er an die älteren Lehrer, die mit derartigen Schwierigkeiten spielend fertig wurden. Bei ihm war alles wie verhext. Er bereitete sich außerordentlich gründlich auf den Unterricht vor. Trotzdem rutschte ihm bisweilen ein falsches Wort heraus. Dann war er wie aus allen Wolken gefallen und brachte es nicht übers Herz zu tun, als wäre alles in bester Ordnung und als hätte er sich gar nicht geirrt. Es ist eben nicht einfach, keinen Fehler zu machen, wenn man von dreißig Augenpaaren angeblickt wird. Und ein Schüler wie Issajew merkt alles. Jederzeit sich selbst in der Gewalt zu haben und gleichzeitig zu sehen, was in der Klasse vorgeht, ist eine Kunst, die Viktor Nikolajewitsch noch nicht beherrschte.

„Issajew", rief er zerstreut, weil er gerade an Petka gedacht hatte, aus keinem andern Grund.

Petka erhob sich. „Was ist denn mit Issajew?" fragte er beleidigt und herausfordernd zugleich. Aus seiner Stimme sprach eine Kriegserklärung, aber der Lehrer ging nicht darauf ein.

„Entschuldige, ich habe mich versprochen. Alenow, wiederhole, was ich soeben erklärt habe."

Jurka fuhr in die Höhe. Das Heft rutschte von seinen Knien und klatschte auf den Fußboden.

„Sie haben erklärt... Sie haben erklärt, daß Sie sich soeben versprochen haben."

Die Klasse war entzückt. Einige krümmten sich vor Vergnügen. Man lachte offen und gründlich, gar nicht mal, weil die Sache so lustig war, sondern einfach, weil sich endlich ein Grund gefunden hatte, fröhlich zu sein. Sogar der Lehrer unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln. Seine Lippen zitterten bedrohlich, seine Augen wurden rund und heiter. Schließlich war es der letzte Tag vor den Ferien.

„Was hast du dort eigentlich unter der Bank, Alenow? Gib einmal her!"

„Ich? Wieso? Nichts." Jurka schob das Heft mit dem Fuß zu Dimka.

„Polujanow, heb das auf und bring es vor."

Dimkas Blicke gingen zwischen dem Lehrer und Jurka unentschlossen hin und her. Endlich hatte er sich entschieden und streckte die Hand nach dem Heft aus.

„Viktor Nikolajewitsch, Sie werden verstehen", flehte Jurka, „das kann ich Ihnen nicht zeigen, keinem Menschen. Ehrenwort."

„Was ist es?"

„Ein Heft."

„Gut", entschied der Lehrer, „ich werde dein Heft nicht lesen. Aber bis zum Ende der Stunden lassen wir es auf meinem Tisch liegen."

Das wollte Jurka nicht. Er hatte Angst. Erwachsene sind schrecklich klug, aber unberechenbar. Sie verstehen sehr viel und auch sehr wenig. Mit einem Lächeln oder einem einzigen Wort können sie zerstören, woran ein Kind mit ganzem Herzen hängt. Jurka verspürte keine Lust, der Aufforderung nachzukommen.

Dimka hatte sich jedoch schon gebückt. Da kroch Petka unter die Bank, riß das Heft an sich und steckte es in die Tasche. Das ging so schnell, daß der Lehrer nur einen flüchtigen Eindruck von etwas Blauem hatte, das auftauchte und wieder verschwand.