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Roger Zelazny

Die Gewehre von Avalon

1

Ich stand am Ufer an der Küste und sagte: »Leb wohl, Schmetterling!«, und das Schiff wendete langsam und glitt wieder ins tiefe Wasser hinaus. Ich wußte, daß es an den Steg des Leuchtturms von Cabra zurückkehren würde, denn jener Ort lag den Schatten nahe.

Als ich mich abwandte, fiel mein Blick auf die schwarze Linie der Bäume in der Nähe. Mir war klar, daß mich ein langer Marsch erwartete. Ich setzte mich in diese Richtung in Bewegung und nahm dabei die notwendigen Anpassungen vor. Nächtliche Kühle lag über dem stummen Wald, und das war gut.

Ich hatte etwa fünfzig Pfund Untergewicht und konnte von Zeit zu Zeit nicht richtig sehen, doch mein Zustand besserte sich allmählich. Ich war mit der Hilfe des verrückten Dworkin den Verliesen Ambers entkommen und hatte mich in Gesellschaft des trinkfesten Jopin wieder etwas erholt. Jetzt mußte ich mir einen Ort zum Verweilen suchen, einen Ort, der einem anderen Ort ähnlich war – einem Ort, den es nicht mehr gab. Ich machte den richtigen Weg ausfindig. Ich schlug ihn ein.

Kurze Zeit später verweilte ich an einem großen Hohlbaum, mit dessen Vorhandensein ich gerechnet hatte. Ich griff hinein, nahm meine versilberte Klinge heraus und gürtete sie um. Es zählte nicht, daß sich die Waffe irgendwo in Amber befunden hatte – jetzt war sie hier, denn der Wald, durch den ich schritt, befand sich in den Schatten.

Ich wanderte mehrere Stunden lang dahin; die unsichtbare Sonne stand dabei irgendwo links hinter mir. Dann ruhte ich mich eine Zeitlang aus und marschierte weiter. Ein hübscher Anblick, die Blätter und Felsen und die toten Baumstümpfe, die lebenden Stämme, das Gras, die dunkle Erde. Es war angenehm, all die zarten Gerüche des Lebens aufzunehmen und sein Summen, Surren und Zwitschern zu hören. Bei den Göttern! Wie teuer mir meine Augen waren? Nach fast vierjähriger Blindheit wieder sehen zu können, war einfach unbeschreiblich! Und mich in Freiheit zu bewegen . . .

Mein zerschlissener Umhang flatterte im Morgenwind, während ich tüchtig ausschritt. Ich muß über fünfzig Jahre alt ausgesehen haben, mit meinem faltigen Gesicht, dem abgemagerten, dürren Körper. Wer hätte in mir den Mann erkannt, der ich wirklich war?

Meine Schritte führten mich durch die Schatten, auf einen Ort zu. Doch so sehr ich die Füße bewegte, so sehr ich durch die Schatten schritt, einem bestimmten Ort entgegen – ich erreichte dieses Ziel nicht. Offenbar war ich doch etwas weichherzig geworden. Es geschah das folgende . . .

Ich stieß auf sieben Männer am Straßenrand. Sechs waren tot, grausig zerstückelt. Der siebente lehnte halb zurückgeneigt mit dem Rücken am moosbedeckten Stamm einer alten Eiche. Er hielt die Klinge im Schoß, und an seiner rechten Flanke schimmerte eine große Wunde, aus der Blut strömte. Im Gegensatz zu etlichen Toten trug er keine Rüstung. Seine grauen Augen waren offen, wirkten allerdings ziemlich glasig. Die Knöchel seiner Schwerthand waren auf geschunden, und er atmete nur sehr langsam. Unter buschigen Brauen hervor beobachtete er die Krähen, die den Toten die Augen aushackten. Mich schien er nicht wahrzunehmen.

Ich streifte die Kapuze über und senkte den Kopf, um mein Gesicht zu verbergen. Dann trat ich näher.

Ich hatte ihn früher einmal gekannt – ihn oder einen Mann, der ihm sehr ähnlich war.

Als ich mich näherte, begann seine Klinge zu zucken; die Spitze wurde gehoben.

»Ich bin ein Freund«, sagte ich begütigend. »Möchtet Ihr einen Schluck Wasser?«

Er zögerte einen Augenblick lang und nickte dann.

»Ja.«

Ich öffnete meine Flasche und reichte sie ihm.

Er trank und hustete, setzte die Flasche erneut an.

»Sir, ich danke Euch«, sagte er und gab mir die Flasche zurück. »Ich bedaure nur, daß das Getränk nicht kräftiger war. Verdammte Wunde!«

»Auch damit bin ich versorgt. Seid Ihr sicher, daß Ihr so etwas vertragt?«

Er streckte die Hand aus. Ich entkorkte eine kleine Flasche und reichte sie ihm. Nach einem Schluck von dem Zeug, das Jopin immer trinkt, hustete er etwa zwanzig Sekunden lang.

Dann lächelte die linke Seite seines Mundes, und er blinzelte mir zu.

»Das ist schon viel besser«, sagte er. »Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich ein paar Tropfen davon auf die Wunde schütte? Ich verschwende ungern guten Whisky, aber . . .«

»Nehmt alles, wenn Ihr müßt. Doch wenn ich es mir recht überlege – Eure Hand scheint ziemlich zittrig zu sein. Vielleicht sollte ich das lieber besorgen.«

Er nickte, und ich öffnete seine Lederjacke und schnitt mit dem Messer sein Hemd auf, bis ich die Wunde freigelegt hatte. Es war ein böse aussehender tiefer Schnitt, der sich einige Zentimeter über dem Hüftknochen bis zum Rücken herumzog. An Armen, Brust und Schultern hatte er weitere, weniger schlimme Verwundungen erlitten.

Aus der großen Öffnung quoll das Blut, ich tupfte es ab und wischte mit meinem Taschentuch die Wundränder sauber.

»Gut«, sagte ich. »Jetzt beißt die Zähne zusammen und wendet den Blick ab.« Ich ließ den Whisky herabtropfen.

Ein gewaltiger Ruck ging durch seinen Körper, dann sank er herab und begann zu zittern. Doch kein Laut kam über seine Lippen, womit ich auch nicht gerechnet hatte. Ich faltete das Taschentuch zusammen und drückte es mitten auf die Wunde. Dort band ich es mit einem langen Stoffstreifen fest, den ich mir unten von meinem Umhang abgerissen hatte.

»Noch einen Schluck?« fragte ich.

»Wasser«, sagte er. »Dann muß ich wohl schlafen.«

Er trank, dann neigte sich sein Kopf nach vorn, bis das Kinn auf der Brust ruhte. Er schlief ein, und ich machte ihm ein Kissen und bedeckte ihn mit den Mänteln der Toten.

Schließlich saß ich an seiner Seite und beobachtete die hübschen schwarzen Vögel bei ihrem grausigen Mahl.

Er hatte mich nicht erkannt. Aber wer konnte mich in meinem Zustand schon erkennen? Hätte ich mich ihm offenbart, wäre ihm mein Name vielleicht bekannt vorgekommen. Wir hatten uns wohl nie richtig kennengelernt, dieser Verwundete und ich. Doch auf eine seltsame Weise waren wir doch miteinander vertraut.

Ich schritt durch die Schatten und suchte einen Ort, einen ganz besonderen Ort. Dieser Ort war vor langer Zeit zerstört worden, doch ich besaß die Macht, ihn wiedererstehen zu lassen, denn Amber strahlt eine Unendlichkeit von Schatten aus. Ein Kind Ambers – und das bin ich – kann sich zwischen den Schatten bewegen. Nennen Sie sie Parallelwelten, wenn Sie wollen, Alternativuniversen, wenn Ihnen das lieber ist, Produkte eines verwirrten Geistes, wenn Ihnen der Sinn danach steht. Ich nenne sie Schatten, ich und auch alle anderen, die die Macht besitzen, sich inmitten dieser Erscheinungen zu bewegen. Wir erwählen eine Möglichkeit und schreiten aus, bis wir sie erreichen. Auf gewisse Weise erschaffen wir sie. Lassen wir es für den Augenblick dabei bewenden.

Ich war über das Meer gefahren und hatte meinen Marsch nach Avalon begonnen.

Vor vielen Jahrhunderten hatte ich dort gelebt. Das ist eine lange, komplizierte, stolze und schmerzhafte Geschichte, auf die ich später vielleicht noch eingehe – wenn ich in der Lage sein sollte, meinen Bericht solange fortzusetzen.

Ich befand mich bereits in der Nähe Avalons, als ich den verwundeten Ritter und die sechs Toten fand. Wäre ich vorbeigegangen, hätte ich einen Ort erlangen können, da die sechs Toten am Straßenrand lagen und der Ritter unverwundet gewesen wäre – oder eine Stelle, da er tot war und sie lachend um ihn herumstanden. Manche Leute sind der Meinung, daß es darauf eigentlich gar nicht ankomme, da es sich bei all diesen Dingen nur um verschiedene Möglichkeiten handelte und es sie deshalb ausnahmslos irgendwo in den Schatten gibt.

Meine Brüder und Schwestern – ausgenommen vielleicht Gérard und Benedict – hätten sich nicht weiter um den Vorfall gekümmert. Ich aber bin wohl etwas weich geraten. So war ich nicht immer, doch es kann sein, daß mich die Schatten-Erde, auf der ich so viele Jahre verbracht habe, ein wenig gemäßigt hat, und vielleicht erinnerte mich die Zeit in den Verliesen Ambers doch etwas an die schreckliche Pein menschlichen Leidens. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich nicht an der Qual eines Mannes achtlos vorbeigehen konnte, der große Ähnlichkeit hatte mit einem guten Freund aus der Vergangenheit. Hätte ich dem Verwundeten meinen Namen ins Ohr gesagt, hätte er mich vielleicht verflucht; auf jeden Fall wäre mir eine Leidensgeschichte zu Ohren gekommen.