Ich stand auf und ging um den Rest unserer Mahlzeit herum. Dann hockte ich mich neben ihr nieder.
»Erinnerst du dich an das Aussehen des brennenden Spinngewebes, das eigentlich gar kein Spinngewebe war und auch gar nicht brannte?« fragte ich.
»Ja – einigermaßen schon.«
»Gib mir das Messer.«
Sie reichte es mir.
Mit der Spitze begann ich ihre Zeichnung im Sand zu erweitern, verlängerte hier eine Linie, verwischte dort eine andere, fügte eigene hinzu. Sie sagte kein Wort, doch sie verfolgte jede meiner Bewegungen. Als ich fertig war, legte ich das Messer zur Seite und wartete einen stummen Augenblick lang.
Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »Ja, das ist es«, wandte sich von der Zeichnung ab und starrte mich an. »Woher wußtest du das? Woher wußtest du, was ich geträumt habe?«
»Weil ich . . .«, sagte ich. »Weil du ein Gebilde geträumt hast, das in deiner Erbmasse niedergelegt ist. Warum und wie – das weiß ich nicht. Diese Erscheinung beweist aber, daß du in der Tat eine Tochter Ambers bist. Dein Erlebnis nennt man ›durch die Schatten gehen«. Und geträumt hast du das Große Muster von Amber. Dieses Muster verleiht Menschen von königlichem Geblüt die Macht über die Schatten. Weißt du, wovon ich spreche?«
»Nicht genau«, sagte sie. »Ich glaube nicht. Ich habe Großvater auf die Schatten fluchen hören, aber ich habe ihn nie richtig verstanden.«
»Dann weißt du nicht, wo Amber wirklich liegt.«
»Nein. In dieser Frage ist er mir immer ausgewichen. Er hat mir wohl von Amber erzählt und von der Familie. Aber ich kenne nicht einmal die Richtung, in der Amber zu finden ist. Ich weiß nur, daß es weit entfernt liegt.«
»Es liegt in allen Richtungen«, sagte ich, »oder in jeder Richtung, die man sich aussucht. Man braucht nur . . .«
»Ja!« unterbrach sie mich. »Ich hatte es vergessen, oder dachte, er wolle nur geheimnisvoll oder herablassend tun – doch Brand hat vor langer Zeit einmal genau dasselbe gesagt. Aber was steht dahinter?«
»Brand! Wann war Brand hier?«
»Vor Jahren«, entgegnete sie. »Ich war damals noch ein kleines Mädchen. Er kam oft zu Besuch. Ich war sehr in ihn verliebt und fiel ihm auf die Nerven. Er erzählte mir viele Geschichten, brachte mir Spiele bei . . .«
»Wann hast du ihn zum letztenmal gesehen?«
»Oh, ich würde sagen, vor etwa acht oder neun Jahren.«
»Hast du noch andere kennengelernt?«
»Ja«, sagte sie. »Julian und Gérard waren vor nicht allzu langer Zeit hier. Das ist erst wenige Monate her.«
Ich kam mir plötzlich sehr ungeschützt vor. Benedict hatte mir manches verschwiegen. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte mir Lügen aufgetischt, als mich völlig im dunkeln tappen zu lassen. Wenn man dann die Wahrheit herausfindet, kann man sich leichter aufregen. Der Ärger mit Benedict war der Umstand, daß er zu ehrlich war. Er zog es vor, mir lieber nichts zu erzählen, als mich anzulügen. Doch ich hatte das Gefühl, etwas Schlimmes wälze sich auf mich zu, und ich wußte, daß ich nicht zögern durfte, daß ich so schnell wie möglich handeln mußte. Ja, es würde ein harter Höllenritt werden, an dessen Ende mich die Steine erwarteten. Doch zunächst gab es mehr zu erfahren. Die Zeit . . . verdammt!
»Hast du sie bei dieser Gelegenheit zum erstenmal gesehen?« fragte ich.
»Ja«, sagte sie. »Und ich war sehr gekränkt.« Sie schwieg einen Augenblick lang und seufzte.
»Großvater hat mir verboten, unsere Verwandtschaft zu erwähnen. Er stellte mich als seinen Schützling vor. Und er weigerte sich, mir den Grund zu nennen. Verdammt!«
»Ich bin sicher, er hatte gute Gründe.«
»Oh, die hatte ich auch. Aber das hilft einem trotzdem nicht weiter, wenn man sein ganzes Leben lang darauf gewartet hat, Verwandte kennenzulernen. Weißt du, warum er mich so behandelt hat?«
»Amber macht im Augenblick eine schwere Zeit durch«, sagte ich, »und die Lage dürfte sich noch verschlimmern, ehe sie wieder besser wird. Je weniger Leute von deiner Existenz wissen, desto geringer ist die Chance, daß du in die Sache hineingezogen wirst und Schaden nimmst. Er wollte dich nur schützen.«
Sie tat, als spucke sie aus.
»Ich brauche keinen Schutz«, sagte sie. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
»Du bist eine vorzügliche Fechtmeisterin«, sagte ich. »Leider ist das Leben komplizierter als ein Duell, bei dem es fair zugeht.«
»Das weiß ich auch. Ich bin ja kein Kind mehr! Aber . . .«
»Nichts ›aber‹! Ich hätte an seiner Stelle genauso gehandelt. Er schützt sich und dich. Ich bin überrascht, daß er Brand eingeweiht hat. Er wird sich ziemlich aufregen, wenn er erfährt, daß ich ebenfalls die Wahrheit kenne.«
Ihr Kopf fuhr herum, und sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.
»Aber du würdest uns doch nicht schaden wollen!« sagte sie. »Wir . . . wir sind doch immerhin verwandt . . .«
»Woher, zum Teufel, willst du wissen, warum ich hier bin oder was ich denke!« rief ich aus. »Vielleicht hast du dich und deinen Großvater soeben ans Messer geliefert!«
»Du machst doch einen Scherz, nicht wahr?« fragte sie und hob wie abwehrend die linke Hand.
»Ich weiß nicht. Es muß durchaus kein Scherz sein – doch ich würde wohl kaum darüber sprechen, wenn ich etwas Übles im Schilde führte, nicht wahr?«
»Nein . . . wahrscheinlich nicht«, sagte sie.
»Ich will dir etwas sagen, das dir Benedict längst hätte offenbaren müssen«, fuhr ich fort. »Du darfst niemals einem Verwandten vertrauen. Das ist viel schlimmer als Vertrauen gegenüber Fremden. Bei einem Fremden besteht immerhin die Möglichkeit, daß du nicht in Gefahr bist.«
»Das meinst du ja ernst, oder?«
»Und ob!«
»Und du selbst beziehst dich ein?«
Ich lächelte. »Für mich gilt das natürlich nicht. Ich bin ein Muster an Ehre, Freundlichkeit, Gnade und Güte. Du kannst mir rückhaltlos vertrauen.«
»Das werde ich tun«, sagte sie; ich lachte.
»O doch!« beharrte sie. »Du würdest uns kein Leid antun. Das weiß ich.«
»Erzähl mir von Gérard und Julian«, sagte ich. Mir war unbehaglich zumute wie immer, wenn mir jemand ungebeten Vertrauen entgegenbrachte. »Weshalb waren sie hier?«
Sie schwieg einen Augenblick lang, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Ich habe dir schon ziemlich viel anvertraut«, sagte sie schließlich, »nicht wahr? Du hast recht. Man kann nie vorsichtig genug sein. Ich glaube, jetzt bist du mal an der Reihe!«
»Gut. Du lernst den Umgang mit unseresgleichen rasch. Was willst du wissen?«
»Wo liegt das Dorf wirklich? Und wo Amber? Die beiden sind sich irgendwie ähnlich, nicht wahr? Was sollte das heißen, als du vorhin sagtest, Amber liege in allen Richtungen oder in jeder, die man sich aussucht? Was sind Schatten?«
Ich stand auf und blickte auf sie hinab. Dann streckte ich die Hand aus. Sie wirkte plötzlich sehr jung und verängstigt, doch sie ergriff mutig meine Hand.
»Wohin . . .?« fragte sie im Aufstehen.
»Hier entlang«, sagte ich und führte sie an die Stelle, wo ich geschlafen hatte. Wir betrachteten den Wasserfall und das Mühlrad.
Sie wollte etwas sagen, doch ich unterbrach sie.
»Schau hin«, sagte ich. »Du mußt nur schauen.«
Und so standen wir da und starrten auf das Wirbeln, Plätschern und Drehen, während ich meine Gedanken ordnete. Dann sagte ich: »Komm«, ergriff sie am Ellbogen und ging mit ihr auf den Wald zu.
Als wir uns zwischen den Bäumen bewegten, verdunkelte eine Wolke die Sonne, und die Schatten wurden tiefer. Die Stimmen der Vögel klangen schriller, und Feuchtigkeit stieg aus dem Boden auf. Wir gingen von Baum zu Baum, und die Blätter wurden länger und breiter. Als die Sonne zurückkehrte, wirkte ihr Licht gelber, und hinter einer Wegbiegung stießen wir auf Pflanzenranken. Die Stimmen der Vögel erklangen nun zahlreicher und heiserer. Der Weg führte plötzlich bergan, und ich geleitete sie an einer Steinformation vorbei auf höheres Gelände. Ein fernes, kaum vernehmliches Grollen schien sich hinter uns bemerkbar zu machen. Das Blau des Himmels veränderte sich, während wir über eine Lichtung schritten und eine große braune Eidechse verscheuchten, die sich auf einem Felsen gesonnt hatte. Als wir um eine andere Felsgruppe bogen, sagte sie: »Ich wußte gar nicht, daß es hier so etwas gibt. Dabei dachte ich, ich kenne mich gut aus, aber hier bin ich noch nie gewesen.« Doch ich antwortete ihr nicht, denn ich war mit meiner ganzen Willenskraft beschäftigt, die Substanz der Schatten zu verändern.