Kurz darauf sahen wir uns wieder dem Wald gegenüber, doch jetzt führte der Weg hangaufwärts zwischen Bäumen hindurch. Die Bäume waren tropische Riesen, durchsetzt mit Farngewächsen, und neue Geräusche – Gebell, Zischen, Summen – wurden laut. Während wir weiter ausschritten, verstärkte sich das Grollen ringsum, der Boden begann förmlich davon zu vibrieren. Dara klammerte sich fester an meinen Arm; sie sagte nichts mehr, verschlang aber jedes Detail mit den Augen. Große, flache helle Blumen wuchsen im Unterholz zwischen Pfützen, in denen sich die von oben herabtropfende Feuchtigkeit niederschlug. Die Temperatur war ziemlich angestiegen, und wir schwitzten nicht wenig. Das Grollen wurde zu einem übermächtigen Tosen, und als wir an den Rand des Waldes kamen, wurden wir von dem Lärm bestürmt wie von ständigem Gewitterdonner.
Ich führte das Mädchen an den Rand des Abgrunds und deutete in die Tiefe.
Vor uns fiel der Wasserfall gut tausend Fuß hinab – ein mächtiger Katarakt, und der Fluß dröhnte unter dem mächtigen Aufprall wie ein Amboß. Die Strömung trug das Wasser kraftvoll dahin, ließ Luftblasen und mächtige Gischtwolken über weite Strecken wirbeln, ehe sie sich schließlich auflösten. Uns gegenüber, etwa eine halbe Meile entfernt, halb verdeckt durch Regenbogen und Wasserdunst, einer von Riesenhand geformten Insel ähnlich, rotierte langsam ein gigantisches Rad, bedächtig und schimmernd. Hoch über uns ließen sich große Vögel wie schwebende Kruzifixe in den Luftströmungen dahintreiben.
Wir verweilten ziemlich lange an dieser Stelle. Ein Gespräch war unmöglich, was mir nur recht sein konnte. Als sie sich schließlich von dem Bild abwandte, um mich mit zusammengekniffenen Augen abschätzend anzusehen, nickte ich und deutete mit den Augen wieder auf den Wald. Wir machten kehrt und schritten in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Bei der Rückkehr liefen dieselben Vorgänge umgekehrt ab, wobei ich es nicht ganz so schwer hatte. Als wir endlich wieder sprechen konnten, schwieg Dara dennoch, da sie offenbar inzwischen erkannt hatte, daß ich ein Teil der Veränderungsprozesse war, die ringsum abliefen.
Erst als wir wieder an dem alten Fluß standen und das kleine Mühlrad beobachteten, ergriff sie das Wort.
»War das ein Ort wie das Dorf?«
»Ja. Ein anderer Schatten desselben Orts.«
»Und wie Amber?«
»Nein. Amber wirft diese Schatten. Wenn man sich darauf versteht, läßt es sich in jede gewünschte Form bringen. Jener Ort war ein Schatten, ebenso dein Dorf – und auch dieses Fleckchen ist ein Schatten. Jeder Ort, den du dir nur vorstellen kannst, existiert irgendwo in den Schatten, du mußt nur die Kunst beherrschen, dorthin zu gelangen.«
». . . Und du und Großvater und die anderen – ihr könnt euch in diesen Schatten bewegen und euch nehmen und aussuchen, was ihr wollt?«
»Ja.«
»Und ich habe dasselbe getan, als ich aus dem Dorf zurückkehrte?«
»Ja.«
Ihr Gesicht war eine Studie aufdämmernder Erkenntnis. Ihre fast schwarzen Augenbrauen senkten sich um einen Zentimeter, und ihre Nasenflügel weiteten sich mit einem plötzlichen Atemzug.
»Ich kann es also auch . . .« sagte sie. »Ich kann mich überallhin bewegen, kann alles tun, was ich will!«
»Die Fähigkeit schlummert in dir«, sagte ich.
Da küßte sie mich in einer impulsiven Geste und wirbelte davon; ihr Haar umtanzte den schlanken Hals, als sie versuchte, sich alles auf einmal anzusehen.
»Ich kann alles!« sagte sie und blieb stehen.
»Es gibt Grenzen und Gefahren . . .«
»So ist das Leben nun mal«, sagte sie. »Wie lerne ich die Gabe einzusetzen?«
»Der Schlüssel dazu ist das Große Muster von Amber. Du mußt es durchschreiten, um die Fähigkeit voll zu erringen. Es ist in den Boden eines Saales unter dem Palast von Amber eingezeichnet. Es ist ziemlich groß. Man muß außen beginnen und ohne stehenzubleiben zur Mitte gehen. Dabei tritt ein ziemlich starker Widerstand auf, und man muß sich sehr anstrengen, um ihn zu brechen. Wenn man stehenbleibt oder das Muster zu verlassen versucht, ehe man es zu Ende beschriften hat, vernichtet es den Betreffenden. Doch begeht man es, wird die angeborene Macht über die Schatten der bewußten Kontrolle unterworfen.«
Sie eilte zu unserem Picknicklager und betrachtete das Muster, das wir dort in den Boden geritzt hatten.
Ich folgte ihr langsam. Als ich näher kam, sagte sie: »Ich muß nach Amber reisen und das Muster beschreiten!«
»Ich bin sicher, daß Benedict entsprechende Pläne mit dir hat – eines Tages.«
»Eines Tages?« fragte sie. »Nein, jetzt! Ich muß das Muster sofort beschreiten! Warum hat er mir nie etwas von diesen Dingen erzählt?«
»Weil du dieses Ziel noch nicht erreichen kannst. Die Verhältnisse in Amber sind so, daß es für euch beide gefährlich wäre, deine Existenz dort bekanntwerden zu lassen. Amber ist vorübergehend gesperrt für dich.«
»Das ist nicht fair!« sagte sie und starrte mich mürrisch an.
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Aber so liegen die Dinge nun mal. Mir darfst du keine Schuld daran geben.«
Die Worte wollten mir nicht so recht über die Lippen, lag doch ein Teil der Schuld tatsächlich bei mir.
»Fast wäre es besser, wenn du mir nichts erzählt hättest«, sagte sie, »wenn ich doch noch nicht die Erfüllung finden kann.«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte ich. »Die Situation in Amber wird sich stabilisieren – es dauert nicht mehr lange.«
»Wie erfahre ich davon?«
»Benedict wird es wissen. Er wird dir davon erzählen.«
»Er hat mir bisher nie viel erzählen wollen!«
»Wozu auch! Nur damit du dich benachteiligt fühlst? Du weißt, daß er dich gut behandelt hat, daß er sich Sorgen um dich macht. Wenn die Zeit reif ist, wird er die nötigen Schritte unternehmen.«
»Und wenn er es nicht tut? Wirst du mir dann helfen?«
»Ich werde tun, was ich kann.«
»Wie kann ich dich finden? Wie kann ich es dich wissen lassen?«
Ich lächelte. An diesem Punkt des Gesprächs waren wir angelangt, ohne daß ich bewußt darauf abgezielt hatte. Den wichtigen Aspekt brauchte ich ihr nicht zu verraten. Nur genug, um mir vielleicht später zu nützen . . .
»Die Tarockkarten«, sagte ich. »Die Familientrümpfe. Die sind mehr als eine sentimentale Narretei. Sie sind ein Verständigungsmittel. Besorge dir meine Karte, blicke sie fest an, konzentriere dich darauf, versuche alle anderen Gedanken aus deinem Geist zu vertreiben, tu so, als hättest du es wirklich mit mir zu tun, ehe du mich ansprichst. Dabei wirst du feststellen, daß dein Wunsch Wirklichkeit geworden ist, daß ich dir tatsächlich antworte.«
»Das sind alles Dinge, die mir Großvater beim Umgang mit den Karten verboten hat!«
»Natürlich.«
»Wie funktioniert das?«
»Das erzähle ich dir später einmal«, sagte ich. »Eine Hand wäscht die andere, weißt du noch? Ich habe dir von Amber und den Schatten erzählt. Jetzt erzähl du mir von Gérards und Julians Besuch.«
»Ja«, sagte sie. »Da gibt es allerdings nicht viel zu berichten. Vor fünf oder sechs Monaten hielt Großvater eines Morgens mitten in seiner Tätigkeit inne. Er war gerade dabei, einige Bäume im Obstgarten zu beschneiden – das macht er gern selbst –, und ich half ihm dabei. Er stand auf einer Leiter und schnipselte herum, und plötzlich erstarrte er, senkte die Schere und bewegte sich mehrere Minuten lang nicht. Ich dachte schon, er ruhe sich aus, und harkte weiter. Dann hörte ich ihn sprechen – er murmelte nicht nur vor sich hin, sondern sprach, als wäre er an einer Unterhaltung beteiligt. Zuerst dachte ich, er meinte mich, und fragte, was er gesagt habe. Doch er kümmerte sich nicht um mich. Jetzt kenne ich die Trümpfe und weiß, daß er mit einem von ihnen gesprochen haben muß. Wahrscheinlich mit Julian. Jedenfalls stieg er anschließend hastig von der Leiter, sagte mir, er müsse auf einen oder zwei Tage fort, und ging zum Haus. Doch gleich darauf blieb er stehen und kehrte zurück. Dann sagte er mir, daß er mich, falls Julian und Gérard auf Besuch kämen, als verwaiste Tochter eines getreuen Bediensteten vorstellen würde. Wenig später ritt er davon und nahm zwei reiterlose Pferde mit. Er hatte das Schwert angelegt.