Er kehrte mitten in der Nacht zurück und hatte beide Brüder bei sich. Gérard war nur noch so eben bei Bewußtsein. Sein linkes Bein war gebrochen, und die gesamte linke Körperhälfte wies Prellungen auf. Julian war ebenfalls ziemlich mitgenommen, hatte aber nichts gebrochen. Die beiden sind fast einen Monat lang bei uns geblieben; sie haben sich schnell wieder erholt. Dann liehen sie sich zwei Pferde aus und verschwanden. Seither habe ich sie nicht wiedergesehen.«
»Was haben sie über die Gründe ihrer Verwundungen gesagt?«
»Nur, daß sie in einen Unfall verwickelt worden seien. Sie wollten mit mir nicht darüber sprechen.«
»Wo? Wo ist das geschehen?«
»Auf der schwarzen Straße. Ich habe sie mehrmals davon sprechen hören.«
»Wo liegt die schwarze Straße?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was haben sie darüber gesagt?«
»Sie haben sie lauthals verflucht. Das war alles.«
Ich blickte hinab und sah einen Rest Wein in der Flasche. Ich bückte mich, schenkte zwei letzte Gläser voll und reichte ihr eins.
»Auf unser Wiedersehen«, sagte ich und lächelte.
». . . Auf das Wiedersehen«, wiederholte sie, und wir tranken.
Sie begann unser Lager aufzuräumen, und ich half ihr. Plötzlich machte sich wieder das Gefühl bemerkbar, daß mir die Zeit zwischen den Fingern hindurchrinne.
»Wie lange soll ich warten, bis ich mich mit dir in Verbindung setze?« fragte sie.
»Drei Monate. Laß mir drei Monate Zeit.«
»Wo wirst du dann sein?«
»Hoffentlich in Amber.«
»Wie lange bleibst du hier?«
»Nicht sehr lange. Offen gesagt muß ich auf der Stelle einen kleinen Ausflug unternehmen. Bis morgen müßte ich zurück sein. Und dann bleibe ich wahrscheinlich nur noch ein paar Tage.«
»Ich wünschte, du bliebest länger.«
»Ich auch. Es würde mir sicher Spaß machen, wo ich dich jetzt kenne.«
Sie errötete und schien sich ganz auf den Korb zu konzentrieren, den sie packte. Ich suchte unsere Fechtsachen zusammen.
»Kehrst du jetzt zum Haus zurück?« fragte sie.
»In die Ställe. Ich reite sofort los.« Sie nahm den Korb auf.
»Dann gehen wir zusammen. Mein Pferd steht in dieser Richtung.«
Ich nickte und folgte ihr zu einem Pfad, der sich rechts von uns entlangzog.
»Wahrscheinlich wäre es das beste, wenn ich niemandem etwas sage, und schon gar nicht Großvater, nicht wahr?«
»Das wäre ratsam.«
Das Plätschern und Gurgeln des Flüßchens auf seinem Wege zum Meer verhallte, nur noch das Quietschen des Mühlrads, welches die Wasserfläche zerteilte, war eine Zeitlang zu hören.
6
Meistens ist das gleichmäßige Vorankommen wichtiger als Geschwindigkeit. Solange es eine regelmäßige Folge von Anreizen gibt, in die sich der Geist nacheinander verbeißen kann, ist auch Platz für eine laterale Bewegung. Hat dieser Vorgang erst einmal begonnen, ist das Tempo eine Sache des persönlichen Geschmacks.
Ich bewegte mich also langsam, doch gleichmäßig voran und setzte mein Urteilsvermögen ein. Es wäre sinnlos gewesen, Star unnötig zu ermüden. Schnelle Veränderungen fallen schon einem Menschen ziemlich schwer. Tiere, die sich nicht leicht etwas vormachen, haben größere Schwierigkeiten damit und drehen manchmal sogar durch.
Ich überquerte den Fluß auf einer kleinen Holzbrücke und bewegte mich eine Zeitlang parallel zu ihm. Ich hatte vor, die eigentliche Stadt zu umgehen und der ungefähren Richtung des Wasserlaufes zu folgen, bis ich in Küstennähe war. Es war ein schöner Nachmittag. Mein Weg lag im kühlen Schatten. Grayswandir hing an meiner Hüfte.
Ich ritt nach Westen und erreichte schließlich die Hügel, die sich dort erhoben. Ich wollte mit der Verschiebung erst beginnen, wenn ich eine Stelle erreicht hatte, von der ich auf die große Stadt hinabblicken konnte, die immerhin die größte Bevölkerungskonzentration darstellte in diesem Land, das meinem Avalon ähnelte. Die Stadt trug denselben Namen, und mehrere hunderttausend Menschen lebten und arbeiteten hier. Etliche Silbertürme fehlten, und der Fluß durchschnitt die Stadt weiter südlich in einem etwas anderen Winkel, nachdem er sich seither um das Zehnfache verbreitert hatte. Rauch stieg auf von den Schmieden und Schänken, leicht bewegt in der Brise aus dem Süden; die Menschen bewegten sich zu Fuß, im Sattel oder auf dem Bock von Wagen oder Kutschen durch die schmalen Straßen, betraten und verließen Läden, Herbergen, Häuser; Vogelscharen wirbelten durcheinander, stießen hinab und stiegen wieder auf über den Plätzen, wo Pferde angebunden waren; bunte Wimpel und Banner regten sich, Wasser schimmerte, Dunst lag in der Luft. Ich war zu weit entfernt, um Stimmen zu hören oder das Klappern, Hämmern, Sägen, Rasseln und Quietschen; nur ein sehr vages Summen schlug an mein Ohr. Zwar vermochte ich keine individuellen Düfte auszumachen, doch als Blinder hätte ich schon am Geruch bemerkt, daß eine Stadt ganz in der Nähe lag.
Der Anblick erfüllte mein Herz mit einer gewissen Nostalgie, mit der vagen Sehnsucht nach jenem Ort, der genauso hieß wie diese Stadt, der aber in einem Schattenland der Vergangenheit untergegangen war, ein Ort, an dem das Leben so einfach und ich glücklicher gewesen war als in diesem Augenblick.
Doch man lebt nicht so lange wie ich, ohne jene besondere Erkenntnisfähigkeit, die naive Gefühle im Entstehen erfaßt und im allgemeinen verhindert, daß Sentimentalitäten aufkommen.
Die damalige Zeit war vorbei und erledigt, und mein Streben zielte jetzt voll und ganz auf Amber ab. Ich zog das Pferd herum und setzte meinen Weg nach Süden fort. Der Wunsch zu siegen regte sich stärker in mir. Amber, ich vergesse dich nicht . . .
Die Sonne wurde zu einem grellen Wundmal über meinem Kopf, und der Wind begann mich zu umtosen. Der Himmel wurde immer gelber und strahlender, bis ich den Eindruck hatte, als erstrecke sich über mir eine Wüste von Horizont zu Horizont. Die Hügel wurden zum Tiefland hin felsiger und boten sich den Blicken in windgeformten Skulpturen von grotesker Gestalt und düsterer Färbung dar. Als ich die Vorberge verließ, hüllte mich ein Sandsturm ein, so daß ich das Gesicht in meinem Mantel verbergen und die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen mußte. Star wieherte, schnaubte mehrmals, mühte sich weiter. Sand, Felsbrocken, Wind, und das Orangerot des Himmels vertiefte sich, eine düstere Wolkengruppe, auf die sich die Sonne zubewegte.
Dann lange Schatten, das Ersterben des Windes, Ruhe . . . Nur das Klappern der Hufe auf dem Gestein und die Geräusche der Atemzüge . . . Dämmerung, als Sonne und Wolken zusammentreffen . . . Die Grundfesten des Tages, von Donner erschüttert . . .
Ferne Objekte in unnatürlicher Deutlichkeit sichtbar . . . Ein kaltes, blaues, elektrisierendes Gefühl in der Luft . . . Wieder Donner . . .
Jetzt ein wogender, glasiger Vorhang zu meiner Rechten, der Regen, der Regen, der auf mich zukommt . . . Blaue Bruchstellen in den Wolken . . . Die Temperatur im Absinken, unsere Schritte gleichmäßig, die Welt ein einfarbiger Hintergrund . . .