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Innerhalb der Stätte — es bedurfte keines anderen Namens, denn es war die älteste und heiligste aller Gräberstätten in den vier kargischen Ländern — wohnten ein paar hundert Menschen. Es gab einige Gebäude: drei Tempel, das Großhaus, das Kleinhaus, das Quartier für die Eunuchen, und gleich außerhalb der Mauer die Baracken der Posten und die zahlreichen Sklavenhütten, die Lagerschuppen, die Pferche für die Schafe und Ziegen und die Scheunen. Von weitem, von den dürren Hügeln im Westen aus, auf denen nur Salbei, Büschel von Stachelgras, unscheinbares Unkraut und einige andere Kräuter wuchsen, sah es wie eine kleine Stadt aus. Selbst von den Ebenen im Osten aus konnte man, hinaufschauend, das Golddach des Tempels der Brüdergötter sehen, das unten am Berg funkelte und glänzte wie ein glitzerndes Körnchen im Felsgestein.

Der Tempel selbst war ein viereckiger, fensterloser Würfel aus Stein, weiß verputzt, mit einer niedrigen Veranda und einer kleinen Tür. Eindrucksvoller und Hunderte von Jahren jünger war der etwas unterhalb davon errichtete Tempel des Gottkönigs. Er hatte ein großes Portal mit mächtigen weißen Säulen, deren Kapitelle bemalt waren — jede Säule war aus dem Stamm einer einzigen Zeder geschnitzt, die per Schiff von Hur-at- Hur hergebracht und von zwanzig Sklaven unter großen Anstrengungen über die ausgedorrte Ebene an die Stätte geschleppt worden waren. Ein Reisender, der sich vom Osten der Stätte näherte, würde erst das Golddach und die hellglänzenden Säulen wahrnehmen, bevor er, weiter oben, den ältesten Tempel seiner Rasse sah: das riesige, niedrige Bauwerk, das die Thronhalle darstellte, deren Wände geflickt und zerbröckelt waren, und deren Kuppel verfiel.

Hinter diesem Gebäude und entlang dem Bergkamm zog sich eine wuchtige Steinmauer hin, die einst mit Mörtel gebaut und jetzt an vielen Stellen beschädigt war. Innerhalb des Halbkreises, den die Mauer beschrieb, befanden sich einige schwarze Steine, ungefähr sechs bis sieben Meter lang, die sich wie riesige Finger aus der Erde hochreckten. Wenn das Auge die Steine einmal wahrgenommen hatte, so wandte es sich ihnen unwillkürlich immer wieder zu. Daß sie nicht zufällig dort standen, sondern eine Bedeutung hatten, war offensichtlich. Doch was sie bedeuteten, wußte niemand mehr. Neun Steine waren es insgesamt. Einer stand kerzengerade, die andern neigten sich etwas, zwei lagen auf der Erde. Sie waren mit grauen und orangefarbenen Flechten überzogen, und es sah aus, als seien sie mit Farbe verspritzt. Nur einer war frei davon, er war nackt und schwarz, und wenn man ihn anfaßte, spürte man, wie glatt er war. An den anderen konnte man unter den Flechten unbestimmte Reliefs sehen oder mit den Fingern fühlen — unbekannte Figuren und Formen. Diese neun Steine waren die Gräber von Atuan. Es wird behauptet, daß sie schon standen, als der erste Mensch auf der Welt erschien, und bevor die Erdsee erschaffen wurde. In der Dunkelheit waren sie aufgestellt worden, als die Länder aus der Tiefe des Meeres emporgehoben wurden. Sie waren älter als die Gottkönige von Kargad, älter als die Zwillingsgötter, älter als das Licht. Sie waren Gräber von denjenigen, die herrschten, bevor die Welt der Menschen erschaffen wurde, von denjenigen, die keine Namen hatten, und wer ihnen diente, hatte ebenfalls keinen Namen.

Arha ging nicht oft dorthin. Außer ihr setzte niemand den Fuß auf den Boden, wo die Steine standen, dort auf dem Berg, innerhalb der Mauer, hinter der Thronhalle. Zweimal im Jahr, beim Vollmond, der der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche am nächsten lag, wurde vor dem Thron ein Opfer dargebracht, und Arha trat aus der Hintertür mit einer Schüssel voll dampfendem Ziegenblut. Dies mußte sie ausgießen, die Hälfte ans Fundament des aufrecht stehenden Steines, den Rest über einen der umgefallenen Steine, der halb im Boden vergraben lag und von dem vergossenen Blut von Jahrhunderten befleckt war.

Manchmal ging Arha ganz allein im frühen Morgenlicht hinauf zu den Steinen und versuchte herauszufinden, was die undeutlichen Erhöhungen und Vertiefungen der Skulpturen darstellten, die im Licht der fast waagrecht fallenden Strahlen der Morgensonne schärfer hervortraten. Manchmal aber saß sie auch nur und schaute hinüber zu den Bergen im Westen und hinunter auf die Dächer und Mauern der Stätte, die sich zu ihren Füßen erstreckte, und sie beobachtete, wie sich allmählich alles um das Großhaus und die Baracken herum zu regen begann, und wie die Schaf- und Ziegenherden ihren spärlichen Weiden beim Fluß zustrebten. Bei den Steinen gab es nichts zu tun. Sie kam nur hierher, weil sie allein nur hierherkommen durfte, und weil sie hier allein sein konnte. Es war im Grunde genommen ein abschreckender Ort. Selbst in der mittäglichen Hitze der Wüste war es kalt hier. Manchmal hörte man den Wind schwach pfeifen, wenn er zwischen den beiden Steinen durchblies, die nebeneinander standen und sich aneinanderlehnten, als hätten sie sich ein Geheimnis zuzuflüstern. Aber es wurden keine Geheimnisse erzählt.

Von der Gräbermauer zweigte eine andere, niedrigere Mauer ab, die einen weiten, ungleichmäßigen Halbkreis um den Hügel der Stätte beschrieb und sich dann nördlich, gegen den Fluß hin, verlor. Diese Mauer schien weniger um des Schutzes willen errichtet, eher um die Stätte in zwei Teile zu trennen. Auf der einen Seite standen die Häuser der Priesterinnen und Eunuchen, auf der anderen befanden sich die Quartiere der Posten und die Hütten der Sklaven, die das Land für die Stätte bebauten, die Herden hüteten und für Futter sorgten. Keiner, der dort wohnte, kam je auf die andere Seite der Mauer, nur an ganz heiligen Festtagen wohnten die Tamboure und Hornisten den Prozessionen der Priesterinnen bei, aber durch die Portale der Tempel traten sie nie. Kein anderer Mann setzte je seinen Fuß auf den inneren Bereich der Stätte. Vor Zeiten wurden Pilger, Könige und Häuptlinge aus den vier Ländern hier empfangen, die hier sakrale Zeremonien verrichteten. Vor 150 Jahren war der erste Gottkönig hierhergekommen, um das Ritual seiner eigenen Tempeleinweihung zu zelebrieren. Doch selbst er konnte nicht zu den Grabsteinen gehen, selbst er mußte außerhalb der Stätte essen und schlafen.

Die Mauer war leicht zu erklettern. Man mußte sich nur mit seinen Zehen an den verschiedenen Vorsprüngen und Vertiefungen festhalten. Die Verzehrte und ein Mädchen, das Penthe hieß, saßen eines Nachmittags im späten Frühling auf der Mauer. Beide waren zwölf Jahre alt. Eigentlich sollten sie im Websaal des Großhauses, einem riesigen, aus Stein gebauten Speicherraum, sein, und dort an den großen, mit schwarzen Kettfäden bespannten Webstühlen schwarzwollene Tücher für Priesterinnengewänder weben. Sie waren hinausgeschlüpft, um am Brunnen im Hof Wasser zu trinken, und dann hatte Arha gesagt: »Komm!«, und hatte das andere Mädchen den Hügel hinunter, um das Großhaus herum, und außer Sichtweite zu der Mauer geführt. Jetzt saßen sie oben auf der Mauer und ließen ihre nackten Beine auf der anderen Seite hinunterhängen. Sie blickten über die endlose Ebene im Osten und im Norden.