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»Gewiß … Gewiß … Das kann man einem Gott aber nicht sagen, mein kleiner Honigkuchen, und auch seiner Priesterin nicht.«

Und sie fing einen Blick aus seinen kleinen, braunen, zwinkernden Augen auf, und sie mußte an Kossil, die Hohepriesterin des Gottkönigs, denken, die sie fürchtete, seit sie hierher an die Stätte gekommen war, und sie verstand Manans Blick.

»Aber der Gottkönig und sein Hof vernachlässigen ihre Pflichten gegenüber den Gräbern. Keiner kommt hierher.«

»Na, er schickt uns Gefangene als Opfer. Das versäumt er nicht. Auch an die Gaben für die Namenlosen denkt er.«

»Gaben! Sein Tempel wird jedes Jahr frisch gestrichen! Gold, hundert Pfund schwer, steht auf seinem Altar, und in seinen Lampen brennt er Rosenöl! Und dann schau dir die Thronhalle an! Das Dach hat Löcher, die Kuppel hat Sprünge, zwischen den Wänden rennen Mäuse herum, Eulen und Fledermäuse fliegen aus und ein … Aber die Thronhalle wird den Gottkönig mit all seinen Tempeln überdauern und alle Könige, die nach ihm kommen! Sie stand schon, bevor sie kamen, und sie wird noch stehen, wenn sie nicht mehr sind. Hier ist das Herz, hier ist der Anfang aller Dinge!«

»Hier ist der Anfang aller Dinge!«

»Es gibt hier auch Reichtümer. Thar spricht ab und zu darüber. Zehnmal mehr gibt es hier, als die Tempel des Gottkönigs fassen könnten! Gold und Edelsteine und Siegestrophäen gibt es hier, die vor Urzeiten geopfert wurden, vielleicht vor hundert Generationen, wer weiß! Die liegen da unten, in den unterirdischen Gewölben und Verliesen. Dahin haben sie mich noch nicht geführt, das verschieben sie immer wieder. Aber ich kann mir vorstellen, wie es da unten aussieht. Unter der Thronhalle sind Räume, unter der ganzen Stätte gibt es Gewölbe, selbst unter uns, wo wir jetzt stehen, gibt es irgendwelche Räumlichkeiten. Es gibt da unheimlich viele Gänge, ein richtiges Labyrinth. Es sieht aus wie eine große dunkle Stadt, die unter dem Hügel verborgen ist, und sie ist angefüllt mit Gold, den Schwertern alter Haudegen, alten Kronen und Gebeinen und Jahren und Schweigen …«

Sie sprach wie in einer Trance, wie in Ekstase. Manan beobachtete sie. Auf seinem gepolsterten Gesicht lag gewöhnlich ein Zug von Trauer. Doch jetzt war es noch trauriger als sonst. »Ja, und du bist die Herrin über all das«, sagte er, »über das Schweigen und die Dunkelheit.«

»Stimmt! Aber sie zeigen mir nichts, nur die Räume, die sich hier oben befinden. Nicht einmal den Zugang zu den unterirdischen Gewölben haben sie mir gezeigt! Nur manchmal machen sie Andeutungen. Sie enthalten mir mein eigenstes Reich vor! Warum lassen sie mich warten und warten?«

»Du bist noch jung. Es kann auch sein«, sagte Manan in seiner rauhen Altstimme, »daß sie Angst haben, Kleines. Denn schließlich ist es nicht ihr Reich, sondern deines. Sie begeben sich in Gefahr, wenn sie es betreten. Du wirst keinen Sterblichen finden, der sich vor den Namenlosen nicht fürchtet.«

Arha erwiderte nichts darauf, aber ihre Augen funkelten. Wiederum hatte Manan etwas gesagt, worüber sie nachdenken mußte. Thar und Kossil waren ihr bislang immer so mächtig, so kalt, so erschreckend erschienen, daß es ihr niemals eingefallen wäre, zu vermuten, daß sie Angst haben könnten. Aber Manan hatte recht. Die beiden fürchteten sich vor diesen Gewölben, vor diesen Mächten, zu denen Arha gehörte, von denen sie ein Teil war. Sie hatten Angst, diesen finsteren Ort zu betreten, sie wollten nicht verzehrt werden.

Als sie jetzt mit Kossil die Stufen des Kleinhauses hinunterstieg und den Windungen des Pfades folgte, der zum Thronsaal hinaufführte, erinnerte sie sich wieder an diese Unterhaltung mit Manan und frohlockte in ihrem Innern. Ganz gleich, wohin sie diese beiden nehmen und was sie ihr zeigen würden, sie, Arha, würde keine Furcht haben. Ihr war der Weg vertraut.

Kossil, die einige Schritte hinter ihr auf dem Pfad folgte, begann: »Wie meiner Herrin bekannt ist, besteht eine ihrer Pflichten darin, gewisse Gefangene, Verbrecher aus adligen Häusern, zu opfern, die Hochverrat geübt oder sich gegen den Gottkönig versündigt haben.«

»Oder gegen die Namenlosen«, sagte Arha.

»Gewiß. Es wäre unpassend gewesen, wenn die Verzehrte, während sie noch ein Kind war, dieser Pflicht nachgekommen wäre. Aber meine Herrin ist kein Kind mehr. Im Kettenraum befinden sich Gefangene, die der Gottkönig in seiner Güte vor einem Monat von seiner Stadt Awabad hierher gesandt hat.«

»Ich wußte nicht, daß Gefangene gesandt wurden. Warum wurde mir das nicht gesagt?«

»Gefangene werden nachts gebracht, und ganz geheim, wie es das alte Ritual der Gräber vorschreibt. Wenn meine Herrin dem Pfad folgt, der sich der Mauer entlang windet, wird sie den geheimen Weg erkennen.«

Arha bog vom Weg ab und ging an der Mauer entlang, die die Grabsteine umschloß, die sich hinter dem Gebäude der Thronhalle befanden. Die Steine der Mauer waren massiv, der kleinste war schwerer als ein Mensch und die größten waren so groß wie Wagen. Obgleich sie nicht zugehauen waren, sah man, daß sie sorgfältig gefügt und zueinandergepaßt waren. Doch es gab Stellen, wo die Steine abgerutscht waren und jetzt in einem unordentlichen Haufen aufeinanderlagen. Diese Zerstörung mußte sich über einen unendlich langen Zeitraum erstreckt haben, über Jahrhunderte unerbittlichen Wüstenklimas, brennendheißen Sommern und frostigen Nächten, oder sie war auf das unmerkliche Verschieben der Hügel selbst zurückzuführen.

»Es ist sehr leicht, die Grabmauer zu übersteigen«, sagte Arha, als sie an ihr entlang gingen.

»Es gibt nicht genügend Männer, die sie wieder herrichten könnten«, erwiderte Kossil.

»Wir haben genügend Männer, um sie zu bewachen.«

»Das sind Sklaven. Ihnen kann man nicht trauen.«

»Man kann ihnen trauen, wenn sie sich fürchten. Man sage ihnen, daß sie genauso bestraft werden wie der Fremde, dem es gelingt, seinen Fuß auf den Boden innerhalb der Mauer zu setzen.«

»Welche Strafe steht darauf?« Kossil stellte diese Frage nicht, um etwas Neues zu erfahren. Sie selbst hatte Arha vor langer Zeit die Antwort darauf gelehrt.

»Er wird vor dem Thron enthauptet.«

»Wünscht meine Herrin, daß einWächter an der Gräbermauer aufgestellt wird?«

»Ja, das ist mein Wunsch!« antwortete Arha. Sie preßte ihre Finger, die in den langen, schwarzen Ärmeln ihres Umhangs verborgen waren, gegen ihre Handflächen, um ihre Freude zu unterdrücken. Daß Kossil keinen Sklaven zur Mauerbewachung verlieren wollte, war ihr ganz klar, im Grunde genommen war es auch ganz und gar unnötig, denn wer kam schon hierher? Es war fast ausgeschlossen, daß ein Mensch sich, sei es durch Zufall oder mit Absicht, der Stätte innerhalb eines Umkreises von einer halben Meile nähern konnte, ohne gesehen zu werden, und den Gräbern konnte er sich schon gar nicht nähern. Aber mit einem Wachtposten wurde ihnen eine Ehre erwiesen, die ihnen zustand, und Kossil konnte nichts dagegen einwenden. Siemußte Arha gehorchen.

»Hier«, sagte sie kalt.

Arha blieb stehen. So oft war sie schon an der Mauer entlanggegangen, daß sie diese genauso gut kannte wie die Stätte, wo sie jeden Zoll, jeden Stein, jeden Dorn und jede Distel kannte. Links von ihr erhob sich die Mauer, dreimal so hoch wie sie selbst, rechts von ihr fiel der Hügel stufenweise ab gegen ein flaches, dürres Tal, das sich auf der anderen Seite gegen die Ausläufer der westlichen Bergkette erhob. Sie ließ ihren Blick über den Boden schweifen, aber sie sah nichts Besonderes, alles sah aus wie sonst.

»Unter dem roten Felsen, Herrin!«

Etwas unterhalb des Hügels war ein treppenähnlicher Felsvorsprung aus roter Lava. Als sie zu dem Vorsprung hinuntergegangen war und direkt davor stand, kam er ihr wieeine ungefüge Tür, etwa eineinhalb Meter hoch, vor.

»Was muß ich jetzt tun?«