Konzessionen mußten gemacht werden; geringfügige Meinungsverschiedenheiten mußten gestattet werden. Geringfügige Abweichungen von der Parteilinie mußten ignoriert oder übersehen werden. Das alles war schlimm genug.
Aber das schlimmste war, daß es sich als unmöglich erwies, Propaganda, selbst interne Propaganda, zu machen. Tatsachen und Zahlen, ob vom Rednerpult verkündet oder im Druck erschienen, mußten stimmen. Die Martier achteten auf jede noch so geringe falsche Angabe oder Übertreibung und teilten es allen Leuten mit. Wie sollte man unter solchen Umständen regieren?
Aber auch die kapitalistischen Kriegshetzer hatten mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Wer eigentlich nicht?
Nehmen wir Ralph Blaise Wendeil. Geboren um die Jahrhundertwende und jetzt vierundsechzig Jahre alt. Von aufrechter Statur, aber bereits ein wenig gebeugt; schlank, mit grauem Haar, das sich bereits lichtete, und müden grauen Augen. Obwohl es damals nicht wie ein Mißgeschick ausgesehen, hatte er das Mißgeschick gehabt, im Jahre 1960 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt zu werden.
Und jetzt war er, zum mindesten bis zu den nächsten Wahlen, Präsident eines Landes mit einer Hundertacht-zig-Millionen-Bevölkerung — und rund sechzig Millionen Martiern.
Im Augenblick — eines Abends Anfang Mai, sechs Wochen nach dem Kommen der Martier — saß er allein in seinem großen Arbeitszimmer und grübelte.
Ganz allein; nicht einmal ein Martier war zugegen. Solche Ungestörtheit war nichts Ungewöhnliches. Die Martier belästigten Präsidenten und Diktatoren nicht mehr als Buchhalter und Babysitters. Sie hatten keinen Respekt vor Personen; sie hatten vor nichts Respekt.
Und jetzt war er, wenn auch vielleicht nur für einen Augenblick, allein. Das Tagwerk getan, aber Unwillens, sich von der Stelle zu bewegen. Oder zu müde dazu. Von jener Ausgelaugtheit befallen, die aus der Verbindung großer Verantwortlichkeit mit einem Gefühl völliger Unzulänglichkeit entsteht. Zum Sterben matt, weil er sich geschlagen sah.
Voller Bitterkeit dachte er an die sechs vergangenen Wochen zurück und an die Krise, in die man geraten war. Im Vergleich dazu war die sogenannte Große Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre ein Kinderspiel gewesen.
Eine Krise, die nicht mit einem Börsenkrach begonnen hatte — obwohl ein solcher Krach rasch genug nachfolgte — sondern damit, daß Millionen innerhalb kürzester Frist stellungslos geworden waren. Fast alle, die in der Vergnügungsindustrie tätig waren; nicht nur die Schauspieler, sondern auch Bühnenarbeiter, Billettabnehmer und Putzfrauen. Alle, die auf irgendeine Weise mit professionellen Sportveranstaltungen zu tun hatten. Alle in der Filmindustrie Beschäftigten. Alle, die beim Funk und beim Fernsehen gearbeitet hatten, außer einigen Technikern, die ihre Stellungen behielten, um die Übertragungen aufrecht zu erhalten und bereits aufgenommene Sendungen abzuspielen. Und einigen, sehr wenigen, Ansagern und Kommentatoren.
Jedes Orchester, jede Tanzkapelle. Schatten der Unterwelt!
Niemand hatte auch nur geahnt, wieviele Millionen sich ihren Lebensunterhalt auf irgendeine Weise, direkt oder indirekt, bei Sportveranstaltungen und in der Vergnügungsindustrie verdient hatten. Nicht bis zu dem Augenblick, da sie ihre Stellungen verloren.
Und der Sturz der Vergnügungsindustrie-Aktien hatte einen allgemeinen Börsenkrach zur Folge gehabt.
Und es war schlimmer und schlimmer geworden. Die Automobilproduktion lag 87 Prozent unter der Produktion des Vorjahrmonats. Selbst die Leute, die noch in Stellungen waren und Geld verdienten, kauften keine neuen Wagen. Man blieb zu Hause. Wohin sollte man auch gehen? Gewiß, manch einer mußte zur Arbeit und zurück fahren, aber für diesen Zweck genügte der alte Wagen. Wer wäre hirnverbrannt genug gewesen, sich in einer derartigen Krise einen neuen anzuschaffen, noch dazu wo der Markt für gebrauchte Wagen mit fast fabrikneuen Modellen vollgestopft war, die manche Leute rasch hatten veräußern müssen. Verwunderlich war weniger, daß die Automobilproduktion um 87 Prozent gesunken war, sondern daß überhaupt noch neue Wagen hergestellt wurden.
Und da man einen Wagen nur dann fuhr, wenn eine zwingende Notwendigkeit bestand — Vergnügungsfahrten waren kein Vergnügen mehr — so wurden auch die Ölfelder und die Raffinerien schwer betroffen. Mehr als die Hälfte aller Tankstellen hatte geschlossen.
Stahl und Kautschuk waren betroffen. Mehr Arbeitslosigkeit.
Weniger Bautätigkeit, weil die Leute weniger Geld hatten und keine Neubauten aufführen ließen.
Und die Gefängnisse! Überfüllt, obgleich es so gut wie keine organisierten Verbrechen mehr gab. Aber sie waren bereits überfüllt gewesen, ehe die Verbrecher entdeckten, daß ihr Handwerk sinnlos geworden war. Und was sollte man jetzt mit den Tausenden anfangen, die täglich verhaftet wurden, weil sie aus Verzweiflung oder irgendeinem anderen Grunde Gewalttätigkeiten begangen hatten?
Was sollte mit den bewaffneten Streitkräften geschehen, wo keine Möglichkeit mehr für einen Krieg bestand — sie auflösen? Und die Anzahl der Stellungslosen um mehrere Millionen erhöhen? An eben diesem Nachmittag hatte er einen Erlaß unterzeichnet, durch den jedem Soldaten oder Matrosen sofortige Entlassung gewährt wurde, wenn der Betreffende nachweisen konnte, daß er entweder eine Stellung in Aussicht hatte oder über genügend Mittel verfügte, die eine Gewähr dafür boten, daß er nicht der öffentlichen Fürsorge zur Last falle. Aber nur ein ganz geringer Bruchteil würde imstande sein, diesen Nachweis zu erbringen.
Die Staatsschuld — der Haushaltsplan — die Notstandsprogramme — das Heer — der Haushaltsplan — die Staatsschuld —
Präsident Wendell vergrub den Kopf in seinen auf dem Schreibtisch ruhenden Händen und fühlte sich sehr alt und sehr nichtig.
Aus einer Ecke des Zimmers kam das spöttische Echo eines Aufstöhnens. „He, Mack", sagte eine Stimme. „Machst du schon wieder Überstunden? Brauchst du vielleicht Hilfe?"
Und ein Auflachen. Ein widerwärtiges Lachen.
Nicht alle Geschäfte gingen schlecht.
Psychiater beispielsweise hatten nicht über Zulauf zu klagen. Sie wurden verrückt, indem sie versuchten, andere Leute vor dem Verrücktwerden zu bewahren.
Oder nehmen wir die Leichenbestatter. Da die Sterblichkeitsziffer infolge von Selbstmorden, Gewalttätigkeiten und Schlaganfällen sprunghaft emporschnellte, hatten sie in ihrem Gewerbe nicht über Krisenerscheinungen zu klagen. Sie machten glänzende Geschäfte, trotz der anwachsenden Tendenz zu möglichst schlichten Beerdigungen oder Einäscherungen ohne alle Feierlichkeiten. (Es fiel Martiern nur allzu leicht, eine Trauerfeierlichkeit in eine Posse zu verwandeln, besonders da sie scharf darauf achteten, was am Sarge eines Verstorbenen gesagt und gesprochen wurde, und wehe, wenn es nicht seinen Tugenden oder Schwächen entsprach und auf Lobhudelei oder Verleumdung hinauslief. Dafür hatten sie ein besonderes Talent und waren über den Lebenswandel des Verblichenen stets aller-bestens informiert. Auch wenn man felsenfest davon überzeugt war, daß der Verstorbene ein untadeliges Leben geführt habe, war man nicht sicher; nur allzu oft erfuhren die trauernden Hinterbliebenen Dinge über ihn, daß ihnen die Spucke wegblieb.)
Die Apotheken hatten einen Riesenumsatz im Verkauf von Aspirin, Beruhigungsmitteln und Ohropax zu verzeichnen.
Wie kaum anders zu erwarten, herrschte nirgends eine solche Hochkonjunktur wie in den Schnapsbrennereien.
Seit altersher dient der Alkohol dem Menschen in bevorzugtem Maße dazu, den unbequemen Dingen des alltäglichen Lebens auszuweichen. Und jetzt hatte das alltägliche Leben plötzlich kleine, grüne Unbequemlichkeiten aufzuweisen, die tausendmal schlimmer waren als alle vorher gekannten. Jetzt hatte der Mensch einen wirklichen Grund zur Flucht in den Rausch.
Getrunken wurde naturgemäß hauptsächlich zu Hause.
Die Kneipen waren noch offen und waren nachmittags voll und abends überfüllt. In den meisten waren die Spiegel hinter der Theke zertrümmert, da man mit Gläsern, Flaschen, Aschenbechern oder irgend etwas Beliebigem nach Martiern geworfen hatte, und die Spiegel wurden nicht ersetzt, weil sie sonst wieder auf dieselbe Art zertrümmert worden wären.