Auch die folgenden Striche des Satzes gehörten zu mehreren Satzteilen und waren so mit den anderen Linien verflochten, dass man keinen Strich wegnehmen konnte, ohne den ganzen Satz zu verändern. Die Heptapoden schrieben nicht ein Semagramm nach dem anderen, sondern fügten einen Satz, unabhängig von einzelnen Semagrammen, aus Strichen zusammen. Ein derart ausgefeiltes Ineinandergreifen von Strichen hatte ich schon bei einigen kalligrafischen Kunstwerken gesehen, besonders bei solchen, die sich des arabischen Alphabets bedienten. Doch diese Konstruktionen hatten der sorgfältigen Planung meisterhafter Kalligrafiekünstler bedurft. Niemand konnte ein derart ausgeklügeltes Gefüge schnell genug erstellen, um damit den Verlauf einer Unterhaltung aufzuzeichnen. Zumindest kein Mensch.
Ich habe mal einen Witz von einer Komikerin gehört, der etwa so geht: »Ich bin nicht sicher, ob ich Kinder haben soll. Also habe ich eine Freundin gefragt, die Mutter ist: ›Mal angenommen, ich bekomme Kinder. Was mache ich, falls sie, wenn sie groß sind, mir für alles, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist, die Schuld geben?‹ Da lachte die Freundin und sagte: ›Was meinst du damit: falls?‹«
Das ist mein Lieblingswitz.
Gary und ich saßen in einem kleinen chinesischen Restaurant, eines der örtlichen Lokale, die wir öfter besuchten, wenn wir dem Lager entfliehen wollten. Wir ließen uns die Vorspeisen schmecken: Jiaozi, wie ich sie am liebsten mochte – stark nach Schweinefleisch und Sesamöl duftend.
Ich tunkte eine der Teigtaschen in Sojasoße und Essig: »Und, wie kommst du mit deinen Heptapod B-Übungen voran?«, fragte ich.
Garys Blick wanderte zur Decke des Restaurants. Ich versuchte, ihm in die Augen zu sehen, aber er wich mir weiter aus.
»Du hast das Handtuch geworfen, hab ich recht?«, sagte ich. »Du versuchst es nicht mal mehr.«
Er sah mich an wie ein reuiger Hund. »Sprachen sind einfach nicht mein Ding«, gestand er. »Ich dachte, Heptapod B zu lernen wäre eher wie Mathematik pauken, statt zu versuchen, eine andere Sprache zu sprechen. Das ist es aber nicht. Es ist zu fremdartig für mich.«
»Es würde dir dabei helfen, mit ihnen über Physik zu reden.«
»Wahrscheinlich, aber seit unserem Durchbruch komme ich auch mit den paar Sätzen aus, die ich kann.«
Ich seufzte. »Ist wohl nur fair. Ich muss zugeben, dass ich es aufgegeben habe, Mathematik zu lernen.«
»Wir sind also quitt?«
»Das sind wir.« Ich nippte an meinem Tee. »Aber eine Frage habe ich noch, und zwar zu dem Fermatschen Prinzip. Irgendetwas daran kommt mir seltsam vor, aber ich kann nicht genau sagen, was. Es klingt eigentlich gar nicht wie ein physikalisches Gesetz.«
Ein Funkeln blitzte in Garys Augen auf. »Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst.« Er zerdrückte mit seinen Essstäbchen eine Teigtasche in zwei Hälften. »Du bist es gewohnt, Lichtbrechung als etwas anzusehen, das auf Ursache und Wirkung beruht: Die Ursache ist, dass Licht sich durch Luft ausbreitet und auf Wasser trifft, und die Richtungsänderung unterhalb der Wasseroberfläche ist die Wirkung. Das Fermatsche Prinzip klingt ungewöhnlich, weil es das Verhalten des Lichtes zielorientiert beschreibt. Es hört sich an, als ob es einem Lichtstrahl einen Befehl erteilt: ›Du sollst die Zeit, die du brauchst, um dein Ziel zu erreichen, minimieren oder maximieren.‹«
Ich dachte darüber nach. »Und weiter?«
»Für die Philosophen unter den Physikern ist das ein altbekanntes Problem. Darüber wird diskutiert, seit Fermat das Prinzip im 17. Jahrhundert zum ersten Mal formuliert hat. Planck hat ganze Bände zu dem Thema verfasst. Der Knackpunkt ist, dass physikalische Gesetze für gewöhnlich so formuliert sind, dass sie von einer Ursache ausgehen. Variationsprinzipien wie das von Fermat sind dagegen zielgerichtet, fast schon teleologisch.«
»Hmm, das ist eine interessante Art, das auszudrücken. Lass mich mal eine Weile darüber nachdenken.« Ich zog einen Filzstift aus der Tasche und zeichnete auf meine Serviette das Diagramm, das Gary auf die Tafel meines Arbeitszimmers skizziert hatte. »Also«, sagte ich, laut nachdenkend, »die Absicht des Lichts ist es, den schnellsten Weg zu nehmen. Was macht das Licht, um das zu erreichen?«
»Nun, wenn ich es anthropomorphisierend beschreiben darf: Das Licht muss alle möglichen Wege prüfen und berechnen, wie lange es für jeden davon brauchen würde.« Er pflückte sich die letzte Teigtasche vom Servierteller.
»Um das zu tun«, fuhr ich fort, »muss das Licht wissen, wo sich sein Ziel befindet. Wenn der Bestimmungsort woanders wäre, würde auch der schnellste Weg anders verlaufen.«
Wieder nickte Gary. »Das stimmt. Die Idee eines ›schnellsten Weges‹ ist bedeutungslos, solange man keinen genauen Bestimmungsort hat. Und um den schnellsten Weg errechnen zu können, muss man auch wissen, was sich wo auf diesem Weg befindet, beispielsweise wo die Wasseroberfläche ist.«
Ich starrte das Diagramm auf der Serviette an. »Und der Lichtstrahl muss das alles im Voraus wissen, bevor er sich auf den Weg macht, richtig?«
»Sozusagen«, erwiderte Gary. »Das Licht kann nicht in eine x-beliebige Richtung aufbrechen und unterwegs den Kurs korrigieren, denn der Verlauf, den es dann nehmen würde, wäre nicht der schnellstmögliche. Das Licht muss alle seine Berechnungen ganz am Anfang anstellen.«
Im Stillen dachte ich mir: Der Lichtstrahl muss wissen, wo er am Ende ankommen wird, bevor er sich für eine Richtung entscheiden kann, in die er aufbrechen will. Ich wusste, woran mich das erinnerte. Ich sah Gary an. »Das war es, was mir keine Ruhe gelassen hat.«
Ich erinnere mich, wie du vierzehn bist. Du wirst aus deinem Zimmer kommen, ein mit Graffiti bekritzeltes Notebook in der Hand, während du gerade an einem Schulaufsatz arbeitest.
»Mom, wie nennt man eine Situation, bei der beide Seiten gewinnen können?«
Ich werde von meinem Computer und dem Text, den ich schreibe, aufblicken. »Wie, du meinst eine Win-Win-Situation?«
»Es gibt einen Fachausdruck dafür, irgendein Mathe-Wort. Weißt du noch, als Papa da war und über Börsenhandel sprach. Da hat er das Wort benutzt.«
»Hmm, hört sich ganz danach an, aber ich kann mich nicht erinnern, was er gesagt hat.«
»Ich muss es wissen. Ich will den Ausdruck in meinem Sozialkundereferat unterbringen. Ich finde noch nicht einmal vernünftige Infos dazu, solange ich nicht weiß, wie man das nennt.«
»Tut mir leid, ich weiß es auch nicht. Warum rufst du nicht deinen Vater an?«
Nach deinem Gesichtsausdruck zu urteilen wird das mehr Aufwand sein, als es dir wert ist. Zu der Zeit werden dein Vater und du nicht allzu gut miteinander auskommen. »Kannst du ihn anrufen und fragen? Aber erzähl ihm nicht, dass ich es wissen will.«
»Ich glaube doch, dass du ihn selber anrufen solltest.«
Das wird dich wütend machen: »Himmel, Mom, niemand hilft mir mehr bei den Hausaufgaben, seit du und Papa euch getrennt habt.«
Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich die Anlässe sein können, bei denen du dieses Thema anschneidest. »Ich hab dir bei den Hausaufgaben geholfen.«
»Ja, vor etwa einer Million Jahren, Mom.«
Das überhöre ich geflissentlich. »Ich würde dir ja jetzt gerne helfen, wenn ich könnte, aber mir fällt der Begriff auch nicht mehr ein.«
Wutschnaubend wirst du zurück in dein Zimmer gehen.