Bis zum Tod seiner Frau blieb das sein Erfahrungshorizont.
Die Erscheinung hatte ein geringeres Ausmaß als üblich, war aber völlig gewöhnlich, was ihre Auswirkungen anging, denn sie bescherte manchen Segnungen, anderen Unheil. In diesem Fall tauchte der Engel Nathanael in einem Einkaufszentrum in der Innenstadt auf. Der Besuch hatte vier Wunderheilungen zur Folge: Die Krebsgeschwüre von zwei Personen verschwanden, die Wirbelsäule eines Querschnittsgelähmten gesundete, und einer erst vor Kurzem erblindeten Person wurde ihr Augenlicht geschenkt. Zudem geschahen zwei Wunder, die keine Heilungen waren: Ein Lieferwagen, dessen Fahrer angesichts der Engelserscheinungen ohnmächtig geworden war, wurde aufgehalten, bevor er auf einem belebten Bürgersteig Schaden anrichten konnte, und als der Engel entschwand, wurde ein anderer Mann von dem himmlischen Licht getroffen, das ihm die Augen verbrannte, ihn aber mit gläubiger Ergebenheit erfüllte.
Sarah Fisk, Neils Frau, zählte zu den acht Opfern der Engelserscheinung. Als der lodernde Flammenmantel des Engels die Fensterscheibe des Cafés, in dem sie sich gerade aufhielt, zerschmetterte, trafen sie umherfliegende Glassplitter. Sie verblutete innerhalb weniger Minuten, und die anderen Cafébesucher – von denen keiner auch nur die leichtesten Verletzungen erlitten hatte – konnten nichts unternehmen, außer ihren Angst- und Schmerzensschreien zu lauschen und schließlich Zeuge zu werden, wie ihre Seele zum Himmel aufstieg.
Nathanael hatte keine besondere Botschaft überbracht. Die mächtig dröhnenden Abschiedsworte des Engels, die den Erscheinungsort erfüllten, waren das übliche Sehet die Macht des Herrn gewesen. Verglichen mit dem Durchschnitt von Todesfällen im Allgemeinen wurden von den acht an diesem Tag Verunglückten verhältnismäßig wenige, nämlich nur drei, in den Himmel aufgenommen. Zweiundsechzig Personen mussten medizinisch versorgt werden. Ihre Verletzungen reichten von leichten Gehirnerschütterungen über geplatzte Trommelfelle bis hin zu Verbrennungen, die Hauttransplantationen nötig machten. Der Gesamtschaden vor Ort belief sich auf 8,1 Millionen Dollar, für den die Versicherungen aufgrund der Ursache nicht aufkamen. Viele wurden infolge dieser Erscheinung zu gottesfürchtigen Gläubigen, sei es aus Dankbarkeit oder aus Angst.
Neil Fisk gehörte leider nicht zu ihnen.
Diejenigen, die Zeuge einer Erscheinung geworden sind, gehen für gewöhnlich zu Gruppentreffen, um darüber zu sprechen, wie das gemeinsame Erlebnis ihr Leben verändert hat. Die Zeugen von Nathanaels jüngster Erscheinung organisierten ebenfalls solche Zusammenkünfte, zu denen sie die Angehörigen der Verstorbenen willkommen hießen, und so nahm auch Neil teil. Die Treffen fanden einmal monatlich im Keller einer der großen Kirchen der Innenstadt statt. Klappstühle aus Metall waren in Reihen aufgestellt, und am hinteren Ende des Raumes stand ein Tisch mit Kaffee und Doughnuts. Alle trugen mit Filzstift ausgefüllte Namensschildaufkleber auf der Brust.
Bis zum Beginn des Treffens standen die Teilnehmer überall im Raum herum, warteten, tranken Kaffee und plauschten miteinander. Die meisten Leute, mit denen Neil sprach, nahmen an, dass der Zustand seines Beines eine Folge der Erscheinung war, und er musste erklären, dass er nicht Zeuge gewesen, sondern der Gatte eines der Opfer war. Das machte ihm nicht allzu viel aus, denn er war es gewohnt, über sein Bein zu sprechen. Was ihn jedoch störte, war die Atmosphäre der Gespräche bei den Zusammenkünften: Die meisten erzählten von ihrem neugefundenen Glauben an Gott und bemühten sich, die Trauernden davon zu überzeugen, ihrem Beispiel zu folgen.
Wie Neil auf solche Überzeugungsversuche reagierte, hing davon ab, wer mit ihm sprach. War es jemand, der die Erscheinung miterlebt hatte, davon aber nicht betroffen gewesen war, fand er es bloß lästig. War es jemand, dem eine Wunderheilung zuteil geworden war, musste Neil sich zurückhalten, dieser Person nicht an den Hals zu gehen. Am meisten entrüstete es ihn allerdings, wenn ein Mann namens Tony Crane ihn zu überzeugen suchte. Auch Tonys Frau war bei der Erscheinung ums Leben gekommen, und jede seiner Bewegungen hatte nun etwas Unterwürfiges. Mit gedämpfter, den Tränen naher Stimme erklärte er, wie er gelernt hatte zu akzeptieren, dass er ein Kind Gottes war, und er riet Neil, es ihm gleichzutun.
Neil besuchte diese Versammlungen weiterhin – er glaubte es Sarah schuldig zu sein, dabei zu bleiben –, aber er hatte eine weitere Gruppe gefunden, an der er teilnehmen konnte, und zwar eine, die eher seiner emotionalen Verfassung entsprach: Bei dieser Gruppe trafen sich Personen, die einen geliebten Menschen durch eine Erscheinung verloren hatten und die nun Gott zürnten. Die Mitglieder dieser Gruppe sahen einander alle zwei Wochen in einem örtlichen Gemeindezentrum, und sie sprachen dort über die Wut und die Trauer, die in ihnen brodelte.
Die Teilnehmer dieser Gruppe kamen trotz ihrer verschiedenen Einstellungen Gott gegenüber gut miteinander aus. Von jenen, die vor ihrem Verlust gläubig gewesen waren, rangen einige damit, sich diesen Glauben zu bewahren, während andere sich ohne zu zögern von ihrer Frömmigkeit abwandten. Von jenen, die bis zu ihrem Schicksalsschlag Atheisten gewesen waren, fühlten sich einige in ihren Ansichten bestätigt, während sich andere wiederum mit der schier unlösbaren Herausforderung konfrontiert sahen, nun im Glauben Halt zu finden. Zu seiner eigenen Bestürzung gehörte Neil zu dieser letzten Gruppe.
Wie alle anderen Ungläubigen hatte Neil nie viel Zeit darauf verschwendet sich auszumalen, wo seine Seele einmal enden würde. Er hatte immer angenommen, dass er in der Hölle landen würde, und sich längst damit abgefunden. So war der Lauf der Dinge, und die Hölle war schließlich kein schlimmerer Ort als die Welt der Sterblichen.
Die Hölle verhieß eine permanente Verbannung aus der Gegenwart Gottes, nicht mehr und nicht weniger. Das war immer dann, wenn die Hölle sich offenbarte, für jeden klar ersichtlich geworden. Dies geschah öfters; dann schien der Erdboden durchsichtig zu werden, und man konnte, als würde man durch ein Loch im Boden blicken, die Hölle sehen. Die verlorenen Seelen unterschieden sich nicht von den Lebenden; ihre unsterblichen Leiber glichen denen der Sterblichen. Sprechen konnte man nicht mit ihnen – ihre Verbannung aus Gottes Gegenwart hatte zur Folge, dass sie die Welt der Sterblichen, wo Sein Wirken immer noch zu spüren war, nicht wahrnehmen konnten –, aber solange die Erscheinungen der Hölle andauerten, konnte man hören, wie die Höllenbewohner sprachen, lachten oder weinten, ganz so, wie sie es getan hatten, als sie noch am Leben gewesen waren.
Auf die Höllenerscheinungen reagierten die Menschen in unterschiedlichster Weise. Die meisten Gläubigen waren wie elektrisiert, nicht weil sie etwas Furchtbares sahen, sondern weil ihnen vor Augen geführt wurde, dass es möglich war, die Ewigkeit außerhalb des Paradieses zu verbringen. Neil gehörte jedoch zu denen, die der Anblick der Höllenerscheinungen unbeeindruckt ließ. Soweit er erkennen konnte, waren die verlorenen Seelen nicht unglücklicher als er selbst und ihr Dasein nicht schlimmer als das in der Welt der Sterblichen. In mancher Hinsicht ging es den Höllenbewohnern sogar besser, denn ihre Körper litten nicht länger unter angeborenen Missbildungen.
Natürlich wusste jeder, dass der Himmel ungleich schöner war als die Hölle oder die Welt der Sterblichen, doch für Neil blieb er immer etwas Unfassbares, das er sich nicht vorstellen konnte, so wie Reichtum, Ruhm oder Glamour. Für jemanden wie ihn war die Hölle einfach ein Ort, an dem es einen nach seinem Tod verschlägt, und er sah keinen Grund, sein Leben umzukrempeln, in der Hoffnung, dem zu entgehen. Und da Gott bisher keine Rolle in Neils Leben gespielt hatte, hatte er keine Angst, von ihm verstoßen zu werden. Die Aussicht, in einer Welt zu leben, in der es von Natur aus keine segensreichen oder leidbringenden Eingriffe von außen gab, barg keinen Schrecken für ihn.