Zu spät wurde ihr klar, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Ein Zuhörer mit einem missgebildeten Bein stand auf und stellte sie zur Rede: Ob sie die Wiederherstellung ihrer Beine allen Ernstes mit dem Tod seiner Frau vergleichen wolle? Ob sie ihre eigene Prüfung tatsächlich auf eine Stufe mit der seinen stellte?
Janice versicherte dem Mann sofort, dem sei nicht so, und sie könne sich natürlich nicht ausmalen, welchen Schmerz er zu ertragen hatte. Aber es sei nicht Gottes Wille, so sagte sie, dass alle Menschen den gleichen Prüfungen unterworfen würden, sondern jedem Menschen werde eine eigene, besondere Prüfung auferlegt, worin auch immer diese bestehen mochte. Die Härte der Prüfung werde durch die Einzigartigkeit der Person bestimmt, weshalb sich verschiedene Fälle keinesfalls miteinander vergleichen ließen. Er solle also Mitgefühl mit jenen haben, deren Prüfungen ihm milder erschienen als die seine, so wie jene mit schwereren Prüfungen Mitgefühl mit ihm haben sollten.
Damit ließ sich der Mann jedoch nicht abspeisen. Janice war etwas zuteil geworden, was für jeden anderen Menschen eine Gnade gewesen wäre – sie aber beklagte sich. Während Janice immer noch versuchte, ihre Sicht der Dinge zu erklären, verließ der Mann hastig die Versammlung.
Bei diesem Mann handelte es sich natürlich um niemand anderen als Neil Fisk. Im Laufe seines Lebens hatte Neil ziemlich oft Janices Namen gehört, meist aus dem Mund von Leuten, die davon überzeugt waren, dass Neils missgebildetes Bein ein Zeichen Gottes war. Diese Leute führten Janice als Beispiel an, dem er folgen sollte, denn ihre Einstellung sei die angemessene Reaktion auf eine Behinderung. Neil konnte nicht abstreiten, dass Janices Beinlosigkeit ein weitaus schlimmeres Los war als sein deformierter Oberschenkelknochen. Allerdings blieb ihm Janices Einstellung derart fremd, dass er auch dann, wenn es ihm leidlich gut ging, nicht in der Lage war, etwas von ihr zu lernen. Jetzt, in tiefster Trauer und verwirrt darüber, dass Janice ein Segen zuteil wurde, den sie nicht nötig hatte, empfand er ihre Worte als unverschämt.
In den darauffolgenden Tagen wurde Janice mehr und mehr von Zweifeln geplagt, und sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was die Wiederherstellung ihrer Beine bedeutete. War sie undankbar? Waren ihre Beine zugleich Segen und Prüfung? Vielleicht waren sie eine Strafe, ein Hinweis darauf, dass sie sich ihrer Aufgabe nicht innig genug hingegeben hatte. Mehrere Möglichkeiten standen im Raum, und sie wusste nicht, welcher sie Glauben schenken sollte.
Noch jemand spielte eine wichtige Rolle in Neils Geschichte, auch wenn Neil ihm erst begegnete, als seine Reise fast zu Ende war. Der Name dieser Person ist Ethan Mead.
Ethan wuchs in einer frommen, wenn auch nicht strenggläubigen Familie auf. Ethans Eltern führten ihre überdurchschnittliche Gesundheit und ihr gutes finanzielles Auskommen auf Gott zurück, auch wenn sie niemals Zeuge einer Erscheinung gewesen waren oder Visionen gehabt hatten. Sie vertrauten einfach darauf, dass Gott, direkt oder indirekt, für ihr Glück verantwortlich war. Ihr Glaube war niemals einer ernsthaften Prüfung unterzogen worden und hätte bei einer solchen womöglich auch nicht standgehalten. Ihre Liebe zu Gott gründete auf ihrer Zufriedenheit mit dem Status Quo.
Ethan allerdings glich seinen Eltern nicht. Seit seinen Kindertagen war er überzeugt, dass Gott ihn für etwas Besonderes auserkoren hatte, und so wartete er auf ein Zeichen, das ihm zeigen würde, was er tun sollte. Gerne wäre er Prediger geworden, aber er hatte das Gefühl, dass er kein überzeugendes Bekenntnis zu bieten hatte, und seine unbestimmte Erwartungshaltung schien ihm zu wenig. Er sehnte sich nach einer Begegnung mit dem Göttlichen, die ihm die Richtung weisen würde.
Er hätte sich zu einer der heiligen Stätten begeben können, einem der Orte, an denen – aus unbekannten Gründen – Engelserscheinungen fast regelmäßig stattfanden, aber Ethan war der Meinung, dass ein derartiges Vorgehen anmaßend gewesen wäre. Die heiligen Stätten waren normalerweise die letzte Zuflucht für Verzweifelte, jene, die sich eine Wunderheilung für ihren Leib erhofften oder das Himmelslicht sehen wollten, um ihre Seelen zu retten, und Ethan war nicht verzweifelt. Er kam zu dem Schluss, dass ihm ein eigener Weg bestimmt worden war und sich mit der Zeit schon klären würde, wohin ihn dieser führen sollte. Solange er darauf wartete, gab er sich Mühe, so gut zu leben, wie er es vermochte. Er arbeitete als Bibliothekar, heiratete eine Frau namens Claire und zog mit ihr zwei Kinder groß. Dabei hielt er aufmerksam Ausschau nach Zeichen einer höheren Bestimmung.
Ethan war sich sicher, dass seine Zeit gekommen war, als er Zeuge einer Erscheinung von Rashiel wurde, derselben Erscheinung, bei der einige Kilometer weiter entfernt Janice ihre Beine erhielt. Ethan war alleine, als es geschah. Als der Boden zu beben anfing, ging er gerade über einen Parkplatz zu seinem Auto. Instinktiv wusste er, dass es sich um eine Erscheinung handelte. Er kniete nieder, wobei er keine Angst verspürte, sondern nur Verzückung und Ehrfurcht, da er hoffte, endlich seine Bestimmung zu erfahren.
Nach einer Weile beruhigte sich die Erde wieder, und Ethan sah sich um, blieb aber ansonsten reglos. Erst einige Minuten später stand er wieder auf. Genau vor ihm klaffte ein großer Riss im Asphalt und führte im Zickzack die Straße hinab. Der Riss schien Ethan eine bestimmte Richtung zu weisen, und so folgte er ihm einige Häuserblocks entlang, bis er auf andere Überlebende stieß, einen Mann und eine Frau, die aus einem kleineren Spalt herauskletterten, der sich unmittelbar unter ihnen aufgetan hatte. Ethan blieb bei den beiden, bis Rettungskräfte eintrafen, und begleitete sie, bis sie in Sicherheit waren.
Bei den Treffen der Selbsthilfegruppe, die nach Rashiels Erscheinung zusammenkam, lernte Ethan andere kennen, die Zeuge der Ereignisse gewesen waren. Nach einigen Gruppentreffen fiel ihm ein gewisses Muster im Verhalten der Besucher auf. Da gab es natürlich jene, die Verletzungen erlitten hatten oder mit Wunderheilungen gesegnet worden waren. Aber es gab auch solche, deren Leben sich auf andere Weise verändert hatte: Der Mann und die Frau, die er zuerst getroffen hatte, verliebten sich ineinander und verlobten sich bald; eine Frau, die unter einer zusammengestürzten Mauer eingeklemmt worden war, hatte sich nach ihrer Rettung entschlossen, selbst Sanitäterin zu werden. Ein Ladeneigentümer gründete eine Gemeinschaft, um die drohende Zahlungsunfähigkeit dieser Frau abzuwenden, während ein anderer, dessen Laden zerstört worden war, die Erscheinung als Zeichen auffasste, dass er sein Leben ändern sollte. Alle außer Ethan hatten auf ihre Weise zu deuten verstanden, was ihnen zugestoßen war.
Er selbst war offensichtlich weder gesegnet noch bestraft worden, und er wusste nicht, was für eine Botschaft er empfangen hatte. Seine Frau Claire war der Meinung, die Erscheinung solle Ethan daran erinnern wertzuschätzen, was er besaß. Das aber stellte ihn nicht zufrieden, denn er war der Ansicht, dass jede Erscheinung – egal, wo sie geschah – diesen Zweck erfüllte, und dass seine unmittelbare Zeugenschaft eine tiefere Bedeutung haben musste. Seine Gedanken kreisten um die fixe Idee, dass er eine Gelegenheit verpasst hatte und es einen weiteren Zeugen gab, den er kennenlernen sollte, aber noch nicht getroffen hatte. Diese Erscheinung musste das Zeichen sein, auf das er gewartet hatte. Er konnte es nicht einfach missachten. Trotzdem wusste er nicht, was er tun sollte.
Ethan verfiel schließlich darauf, eine Möglichkeit nach der anderen abzuhaken. Er besorgte sich eine Liste aller Zeugen und strich alle durch, die ihre Erfahrung schlüssig zu deuten wussten. Von den verbliebenen Personen musste nach Ethans Überlegung eine irgendwie mit seinem Schicksal verstrickt sein. Von denen, die von der Erscheinung verunsichert worden oder sich über ihre Bedeutung unklar waren, musste eine die Person sein, die ihm zu treffen bestimmt war.