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»Wenn ihr im Berg schuftet, singt ihr dann?«, fragte Lugatum.

»Wenn der Stein weich ist«, sagte Nanni.

»Dann singt eines eurer Bergwerkslieder.«

Die Aufforderung machte die Runde durch die Reihen der anderen Bergarbeiter, und kurz darauf sang der ganze Trupp.

Während sie höher und höher hinaufstiegen, wurden die Schatten immer kürzer. Geschützt vor der Sonne, umgeben nur von klarer Luft, war es hier viel kühler als in den engen Gassen der Stadt, wo die Mittagshitze Eidechsen umbringen konnte, die über die Straße krochen. Blickten sie zur Seite hinaus, konnten die Bergarbeiter den dunklen Euphrat und die sich weithin ausbreitenden grünen Felder sehen, die von im Sonnenlicht glitzernden Kanälen unterteilt wurden. Die eng beieinanderliegenden Straßen und mit Gips verputzten Gebäude Babylons bildeten ein komplexes Muster, vom dem sich umso weniger erkennen ließ, je näher es sich scheinbar an den Turm schmiegte.

Als Hillalum wieder einmal auf der Randseite an der rechten Schlaufe zog, vernahm er von der aufwärtsführenden Rampe unter ihnen einiges Geschrei. Er dachte schon daran, stehen zu bleiben und über den Rand hinunterzublicken, aber er wollte die Kolonne nicht aus dem Schritt bringen und hätte die untere Rampe sowieso nur undeutlich gesehen. »Was geht dort unten vor sich?«, rief er zu Lugatum.

»Einer von euren Bergarbeitern hat Angst vor der Höhe. Unter denen, die zum ersten Mal den Turm erklimmen, gibt es hin und wieder einen solchen Mann, der sich an den Boden klammert und nicht weiter aufwärts gehen kann. Nur wenige überkommt es allerdings schon so früh.«

Hillalum konnte das nachvollziehen. »Wir kennen eine vergleichbare Angst unter denen, die Bergarbeiter werden möchten. Manche Männer ertragen es nicht, in die Minen hinabzusteigen, aus Furcht, sie könnten verschüttet werden.«

»Wirklich?«, rief Lugatum. »Davon habe ich noch nie gehört. Wie kommst du mit der Höhe zurecht?«

»Ich spüre nichts.« Aber er warf Nanni einen Blick zu, und sie beide wussten es besser.

»Du spürst ein nervöses Kribbeln in den Handflächen, nicht wahr?«, flüsterte Nanni.

Hillalum rieb sich die Hände an den rauen Fasern des Seils und nickte.

»Ich habe es auch gespürt, vorhin, als ich dem Rand näher war.«

»Vielleicht sollten wir auch Scheuklappen tragen, wie der Ochse und die Ziege«, murmelte Hillalum im Spaß.

»Denkst du, uns überkommt die Angst auch, wenn wir noch höher steigen?«

Hillalum überlegte eine Weile. Es gefiel ihm nicht, dass einer ihrer Kameraden schon so früh die Nerven verlor. Er schob den Gedanken beiseite; Tausende stiegen ohne Furcht auf den Turm, und es wäre dumm, wenn sie sich alle von der Angst eines Mannes anstecken lassen würden. »Wir sind es nur nicht gewohnt. Uns bleiben noch Monate, um mit der Höhe vertraut zu werden. Haben wir erst einmal die Spitze des Turmes erreicht, werden wir uns wünschen, er wäre höher.«

»Nein«, sagte Nanni. »Ich glaube nicht, dass ich mir jemals wünschen werde, den Karren noch weiter ziehen zu müssen.« Sie lachten beide.

Abends aßen sie eine Mahlzeit aus Gerste, Zwiebeln und Linsen und schliefen in den engen Korridoren, die ins Innere des Turmes führten. Als sie am nächsten Morgen erwachten, waren die Bergarbeiter kaum in der Lage zu gehen, so sehr taten ihnen die Beine weh. Die Karrenzieher lachten und gaben ihnen eine Salbe, um ihre Muskeln damit einzureiben, und sie schichteten die Fracht auf den Karren so um, dass die Bergarbeiter weniger zu ziehen hatten.

Wenn Hillalum jetzt an der Seite des Turmes hinabschaute, wurden ihm die Knie weich.

In dieser Höhe blies ein stetiger Wind, und er ahnte, dass er stärker werden würde, je höher sie kamen. Er fragte sich, ob jemals einer der Arbeiter in einem unachtsamen Augenblick vom Turm geweht worden war. Und der Sturz – ein Mann hätte genug Zeit, um ein Gebet zu sprechen, bevor er auf dem Boden aufschlug. Hillalum schauderte bei dem Gedanken.

Der zweite Tag war wie der erste, vom Muskelkater in den Beinen der Bergarbeiter einmal abgesehen. Sie konnten nun viel weiter blicken, und die Größe des Landes war überwältigend; jenseits der Felder wurden die Wüsten sichtbar, und Karawanen schienen kaum mehr zu sein als Linien aus Insekten. Kein weiterer Bergarbeiter fürchtete die Höhe so sehr, dass er nicht weitergehen konnte, und ihr Aufstieg setzte sich ohne Zwischenfall fort.

Am dritten Tag hatten die Schmerzen in den Beinen der Bergarbeiter noch nicht nachgelassen, und Hillalum kam sich vor wie ein verkrüppelter alter Mann. Erst am vierten Tag fühlten sich ihre Beine besser an, und so zogen sie wieder ihre ursprüngliche Last. Ihr Aufstieg setzte sich bis zum Abend fort, als sie auf die zweite Zugmannschaft trafen, die ihnen mit leeren Karren auf der abwärts führenden Rampe raschen Schrittes entgegenkam. Die auf- und absteigenden Rampen wanden sich umeinander, ohne sich zu berühren, waren aber durch Korridore, die durch den Turm führten, miteinander verbunden. Nachdem die beiden Kolonnen in etwa auf gleicher Höhe waren, durchquerten sie den Turm, um die Wagen zu wechseln.

Die Bergarbeiter wurden den Karrenziehern der zweiten Etappe vorgestellt, und in dieser Nacht aßen sie zusammen und unterhielten sich miteinander. Am nächsten Morgen machte die erste Mannschaft die Karren für den Rückweg nach Babylon fertig, und Lugatum verabschiedete sich von Hillalum und Nanni.

»Gebt auf euren Wagen acht. Er ist den gesamten Turm öfter hinauf- und hinabgestiegen als irgendein Mensch.«

»Beneidest du auch den Karren?«, fragte Nanni.

»Nein, denn jedes Mal, wenn er die Spitze erreicht, muss er den ganzen Weg nach unten zurückkehren. Ich könnte das nicht aushalten.«

Als die zweite Mannschaft am Ende des Tages anhielt, kam der Karrenzieher hinter Hillalum und Nanni zu ihnen, um ihnen etwas zu zeigen. Sein Name war Kudda.

»Ihr habt noch nie die Sonne aus solcher Höhe gesehen. Kommt und schaut.« Der Karrenzieher ging zum Rand, setzte sich und ließ die Beine über die Kante baumeln. Er bemerkte, dass die beiden zögerten. »Kommt. Ihr könnt euch hinlegen und über den Rand blicken, wenn ihr wollt.« Hillalum wollte nicht wie ein ängstliches Kind wirken, konnte sich aber nicht überwinden, sich an den Rand eines Abgrunds zu setzen, der sich Tausende von Ellen unter seinen Füßen erstreckte. Er legte sich auf den Bauch, nur mit dem Kopf an der Kante. Nanni gesellte sich zu ihm.

»Wenn die Sonne untergeht, dann schaut an der Seite des Turmes hinunter.« Hillalum warf einen Blick nach unten und schaute dann schnell zum Horizont.

»Was ist hier am Sonnenuntergang anders?«

»Ihr müsst bedenken, dass es, wenn die Sonne hinter die Bergspitzen im Westen sinkt, in der Ebene von Shinar dunkel wird. Hier jedoch sind wir höher als die Berggipfel und können also die Sonne immer noch sehen. Die Sonne muss für uns noch weiter untergehen, bis wir Nacht haben.«

Hillalum war fassungslos. »Die Schatten der Berge markieren den Beginn der Nacht. Auf der Erde dort unten wird es früher Nacht als hier oben.«

Kudda nickte. »Ihr könnt zuschauen, wie die Nacht den Turm emporklettert, vom Boden zum Himmel. Sie bewegt sich rasch, aber ihr solltet sie sehen können.«

Er beobachtete den roten Feuerball für eine Weile, schaute dann hinab und streckte den Finger aus. »Jetzt!«

Hillalum und Nanni blickten hinunter. Am Fuße der gewaltigen Säule lag das kleine Babylon im Dunkeln. Dann kletterte die Schwärze den Turm hinauf, wie ein Vorhang, der zugezogen wurde. Sie bewegte sich so langsam, dass Hillalum glaubte, die Augenblicke zählen zu können, doch dann, als sie näher kam, beschleunigte sich die Finsternis, bis sie schneller, als er blinzeln konnte, an ihnen vorüberraste, und dann befanden sie sich im Zwielicht.