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Ein helles Licht erstrahlte, und Janice wurde von den Füßen gerissen, als hätte ein Vorschlaghammer sie getroffen. Einen Moment lang dachte Neil, ein Blitz hätte sie getroffen, sah aber dann, dass das Gewitter bereits vorübergezogen war. Als Janice sich wieder aufrichtete, sah er, wie Dampf von ihrer jetzt völlig glatten Haut aufstieg, und da begriff er, dass sie vom himmlischen Licht getroffen worden war.

Neil blickte nach oben, doch er konnte nur Wolken sehen. Der Lichtstrahl war fort. Es schien ihm, als wollte Gott ihn verhöhnen, nicht nur, indem er ihm das zeigte und doch vorenthielt, was ihn sein Leben gekostet hatte, sondern indem er es jemandem gewährte, der es weder brauchte noch wollte. Gott hatte bereits einmal ein Wunder an Janice verschwendet und tat es nun wieder.

In diesem Augenblick durchbrach ein weiterer Strahl des himmlischen Lichts die Wolken und traf Neil, der reglos in seinem Wagen lag.

Wie tausend Nadeln durchbohrte das Licht sein Fleisch und schrammte über seine Knochen. Das Licht tilgte seine Augen, verwandelte ihn nicht etwa in ein Wesen, das früher hatte sehen können, sondern in eines, das niemals dafür gemacht gewesen war zu sehen. Und indem es das tat, offenbarte das Licht Neil alle Gründe dafür, warum er Gott lieben sollte.

Er liebte Ihn mit einer Hingabe, die alles übertraf, was Menschen füreinander empfinden können. Diese Liebe als uneingeschränkt zu bezeichnen, wäre unzureichend, denn das Wort »uneingeschränkt« verweist auf eine Beschränkung, und diese Vorstellung hatte für Neil seine Bedeutung verloren: Alles, was innerhalb des Universums geschah, war für ihn nun nicht weniger als ein unzweideutiger Grund dafür, Ihn zu lieben. Nichts konnte mehr ein Hindernis oder auch nur eine Unerheblichkeit sein, sondern lediglich ein weiterer Anlass, dankbar zu sein, eine weitere Ermunterung, Gott zu lieben. Neil gedachte seiner Trauer, die ihn zu diesem selbstmörderischen Draufgängertum getrieben hatte, und an die Qualen und Schrecken, die Sarah erduldet hatte, als sie starb, und dennoch liebte er Gott, nicht trotz ihrer Leiden, sondern wegen ihnen.

Er schwor all seinem früheren Ärger, seiner Unentschlossenheit und seinem Verlangen nach Antworten ab. Er war dankbar für all die Schmerzen, die er ertragen hatte, voller Reue, dass er sie nicht schon früher als die Gnade verstanden hatte, die sie waren, und jubelte innerlich, dass ihm nun Einsicht in Gottes wahren Willen gewährt worden war. Er begriff, dass das Leben ein unverdientes Geschenk war, und dass auch die Tugendhaftesten es nicht verdienten, die Herrlichkeit des sterblichen Lebens genießen zu dürfen.

Für Neil waren alle Geheimnisse gelüftet, denn er verstand nun, dass alles im Leben eigentlich Liebe war, auch Schmerzen – vor allen Dingen Schmerzen.

Einige Minuten später, als Neil schließlich verblutete und starb, hatte er es wahrhaftig verdient, errettet zu werden.

Und Gott ließ ihn trotzdem zur Hölle fahren.

Ethan hatte all das beobachtet. Er sah, wie Neil und Janice durch das himmlische Licht neu erschaffen wurden, sah die gottesfürchtige Liebe auf ihren augenlosen Gesichtern. Er sah, wie der Himmel sich klärte und das Licht der Sonne zurückkehrte. Er hielt Neils Hand und wartete auf die Sanitäter, bis Neil starb, und er sah, wie Neils Seele seinen Körper verließ und anfänglich gen Himmel aufstieg, nur um dann doch zur Hölle hinabzugleiten.

Janice sah nichts von alledem, denn zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits keine Augen mehr. Ethan war der einzige Zeuge, und er begriff nun, dass es diese Rolle war, die Gott ihm zugedacht hatte: Janice Reilly bis zu diesem Ereignis zu begleiten und für sie zu sehen, was sie nicht mehr schauen konnte.

Nachdem die Statistiken von Barakiels Erscheinung zusammengetragen worden waren, lautete das Ergebnis, dass es insgesamt zehn Opfer gegeben hatte, sechs davon Lichtsucher, die anderen gewöhnliche Pilger. Neun Wallfahrer hatten Wunderheilungen erfahren. Neil und Janice waren die Einzigen, die das himmlische Licht gesehen hatten. Es gab keine Zahlen darüber, wie viele Pilger gespürt hatten, dass die Erscheinung ihr Leben für immer verändert hatte, aber Ethan rechnete sich dieser Gruppe zu.

Seit ihrer Rückkehr nach Hause verbreitete Janice weiter ihre frohe Botschaft, doch das Thema ihrer Reden hat sich gewandelt. Sie spricht nicht mehr davon, dass die körperlich Behinderten über die Mittel verfügen, ihre Beeinträchtigungen zu überwinden. Wie die anderen Augenlosen predigt sie stattdessen über die unfassbare Schönheit von Gottes Schöpfung. Von jenen, für die sie einst eine Quelle der Inspiration gewesen war, wenden sich viele enttäuscht von ihr ab, denn sie haben das Gefühl, eine spirituelle Führerin verloren zu haben. Die Janice von einst, die als Behinderte von der ihr eigentümlichen inneren Kraft gesprochen hatte, war etwas Besonderes, etwas Seltenes gewesen. Nun aber, als Augenlose, klingt ihre Botschaft banal. Es bekümmert sie nicht, dass ihr Publikum schrumpft, denn nun ist sie vollkommen überzeugt von dem, was sie predigt.

Ethan hat seinen Beruf als Bibliothekar aufgegeben und ist Prediger geworden, um ebenfalls von seinen Erfahrungen berichten zu können. Seine Frau Claire konnte sich mit seiner neuen Sendung nicht abfinden und hat sich schließlich von ihm getrennt und die Kinder mitgenommen. Ethan aber war gewillt, seinen Weg alleine zu gehen. Indem er den Menschen berichtet, wie es Neil Fisk ergangen ist, versammelt er eine beträchtliche Gefolgschaft um sich. Ethan predigt den Menschen, dass man sich für das Leben nach dem Tode genauso wenig Gerechtigkeit erhoffen kann wie für die Welt der Sterblichen, aber er predigt das nicht, um irgendjemanden davon abzubringen, Gott zu verehren. Ganz im Gegenteil – er ermuntert seine Zuhörer, genau das zu tun. Eindringlich warnt er sie davor, sich bei ihrer Gottesliebe von irrigen Vorstellungen leiten zu lassen, denn sie müssten sich darauf gefasst machen, Ihn zu lieben, ohne Rücksicht darauf, was Sein Wille ist. Gott ist nicht gütig. Gott ist nicht gnädig. Und das ist ein grundlegender Bestandteil jedes wahren Glaubens.

Obwohl Neil Ethans Predigten nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann, hätte er ihnen vorbehaltlos zugestimmt. Neils verlorene Seele ist die Verkörperung von Ethans Lehre.

Für die meisten ihrer Bewohner unterscheidet sich die Hölle nicht wesentlich von der Erde. Die hauptsächliche Strafe besteht darin zu bereuen, Gott nicht innig genug geliebt zu haben, als man noch am Leben war, und für viele ließ sich das leicht ertragen. Für Neil allerdings gleicht die Hölle in keiner Weise seinem vergangenen Dasein in der Welt der Sterblichen. Sein unsterblicher Körper hat wohlgeformte Beine, was er aber kaum bemerkt, und er hat seine Augen wiedererhalten, erträgt es aber nicht, sie zu öffnen. Der Anblick des himmlischen Lichts hat ihm ein Bewusstsein für die Allgegenwart Gottes in der Welt der Sterblichen verliehen, und ebenso hat es ihm vor Augen geführt, dass Gott in der Hölle völlig abwesend ist. Alles, was Neil sieht, hört oder berührt, erfüllt ihn mit Verzweiflung, und anders als auf der Erde ist dieses Leid keine Folge von Gottes Liebe, sondern beruht auf Seiner Abwesenheit. Neil erduldet nun größere Qualen, als es Sterblichen wie ihm je möglich gewesen war, doch seine einzige Reaktion besteht darin, Gott zu lieben.

Neil liebt Sarah noch immer, und er vermisst sie wie eh und je. Sein Wissen, dass er es fast geschafft hätte, wieder bei ihr zu sein, macht alles nur noch schlimmer. Er weiß, dass nicht seine eigenen Taten schuld daran sind, dass er in die Hölle gekommen ist – dass es keinen Grund dafür gibt und dass es keinem höheren Ziel dient. Doch das alles kann seine Liebe zu Gott nicht schmälern. Wenn es für ihn eine Möglichkeit gäbe, doch noch in den Himmel zu kommen und sein Leiden zu beenden, so würde er sich das nicht erhoffen. Solche Sehnsüchte suchen ihn nicht mehr heim.

Neil ist sich auch darüber im Klaren, dass seine Liebe zu Gott von Ihm nicht erwidert wird, denn Gott nimmt ihn gar nicht wahr. Auch das beeinträchtigt seine Gefühle für Gott nicht, denn uneingeschränkte Liebe verlangt nichts, auch nicht, dass sie erwidert wird.