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Hillalum drehte sich um und blickte nach oben, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Dunkelheit den Rest des Turmes verschlang. Allmählich wurde der Himmel dunkler, während die Sonne in weiter Ferne hinter dem Rand der Welt versank.

»Ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?«, sagte Kudda.

Hillalum blieb ihm die Antwort schuldig. Zum ersten Mal verstand er, was die Nacht war: der Schatten der Erde selbst, der wider den Himmel geworfen wurde.

Nachdem sie zwei weitere Tage hinaufgestiegen waren, hatte sich Hillalum etwas mehr an die Höhe gewöhnt. Obwohl sie sich fast fünftausend Schritt senkrecht über dem Erdboden befanden, war er in der Lage, am Rand der Rampe zu stehen und hinaufzuschauen. Allerdings hielt er sich an einer der Säulen fest und lehnte sich vorsichtig nach hinten. Da bemerkte er, dass der Turm nicht mehr wie eine glatte Säule aussah.

Er fragte Kudda: »Es hat den Anschein, dass sich der Turm verbreitert. Wie kann das sein?«

»Sieh genauer hin. Dort oben sind hölzerne Balkone an den Seiten befestigt. Sie sind aus Zypressen gemacht und werden von Flachsseilen gehalten.«

Hillalum kniff die Augen zusammen. »Balkone? Wozu?«

»Auf ihnen wird Erde ausgebreitet, sodass man dort Gemüse anbauen kann. Wasser ist knapp in jener Höhe, weshalb Zwiebeln am weitesten verbreitet sind. Weiter oben, wo es öfter regnet, gibt es auch Bohnen.«

»Wie kann es dort oben Regen geben«, fragte Nanni, »der nicht hier unten fällt?«

Kudda sah ihn überrascht an. »Er verdunstet in der Luft, ehe er ankommt, was sonst?«

»Oh, natürlich.« Nanni zuckte mit der Schulter.

Am Ende des darauffolgenden Tages erreichten sie die ersten Balkone. Dabei handelte es sich um flache, dicht mit Zwiebeln bepflanzte Vorbauten, die an Seilen befestigt waren, welche an der Turmmauer knapp unter den nächsthöheren Balkonen festgemacht waren. In jeder Etage barg das Innere des Turmes mehrere enge Räume, in denen die Familien der Zugmannschaften lebten. Frauen saßen in den Türöffnungen und nähten Tunikas oder gruben draußen Knollen aus. Kinder spielten Fangen und jagten einander über die Rampen und zwischen den Wagen der Karrenzieher auf der Rampe hindurch; der Abgrund, der neben ihnen gähnte, schien ihnen nicht die geringste Angst zu machen. Die Turmbewohner erkannten die Bergarbeiter gleich, und alle winkten und lächelten.

Als es Zeit für das Abendessen war, wurden alle Karren abgestellt und Essen und andere Güter für die hier Wohnenden abgeladen. Die Karrenzieher begrüßten ihre Familien und luden die Bergarbeiter zum Essen ein. Hillalum und Nanni aßen bei Kuddas Familie und genossen ein Mahl aus getrocknetem Fisch, Brot, Dattelwein und Früchten.

Hillalum bemerkte, dass dieser Abschnitt des Turmes einer kleinen Stadt glich, die sich zwischen zwei Straßen erstreckte – den auf- und abwärts verlaufenden Rampen. Es gab einen Tempel, in dem die Festtage begangen wurden; es gab Richter, die Streitigkeiten regelten; es gab Geschäfte, die von den Karawanen beliefert wurden. Stadt und Karawane waren aufeinander angewiesen: Keines konnte ohne das andere bestehen. Und doch war jede Karawane im Grunde eine Reise, etwas, das an einem Ort begann und an einem anderen endete. Diese Stadt war niemals als feste Einrichtung gedacht gewesen, sie war lediglich Teil einer Jahrhunderte währenden Reise.

Nach dem Essen fragte Hillalum Kudda und seine Familie: »Hat einer von euch jemals Babylon besucht?«

Kuddas Frau, Alitum, antwortete: »Nein, warum sollten wir? Es ist ein langer Weg, und alles, was wir brauchen, haben wir hier.«

»Wollt ihr nicht einmal euren Fuß auf den Erdboden setzen?«

Kudda zuckte mit den Schultern. »Wir leben an der Straße zum Himmel; unsere ganze Arbeit dient dazu, sie auszubauen. Wenn wir den Turm verlassen, dann über die Rampe nach oben, nicht nach unten.«

Während die Bergarbeiter ihren Aufstieg fortsetzten, kam schließlich der Tag, an dem der Turm denselben Anblick bot, ob man über den Rand der Rampe nun nach oben blickte oder nach unten. Nach unten hin verlor sich der Rumpf des Turmes im Nichts, lange bevor er die Ebene zu erreichen schien. Umgekehrt waren die Bergarbeiter allerdings auch noch weit davon entfernt, die Spitze des Turmes erkennen zu können. Alles, was zu sehen war, war ein Teilstück des Turmes. Hinauf- oder hinabzublicken war furchterregend, denn sie hatten jeglichen Bezug verloren; sie waren nicht länger ein Teil des Erdbodens. Der Turm hätte ein Faden in der Luft sein können, weder mit Erde noch Himmel verbunden.

Während jener Zeit gab es Augenblicke, in denen Hillalum verzagte, sich fehl am Platze und der Welt entfremdet fühlte; es kam ihm vor, als hätte die Erde ihn aufgrund seines Unglaubens zurückgewiesen, während der Himmel sich weigerte, ihn aufzunehmen. Er sehnte sich nach einem Zeichen Jahwes, auf dass er die Menschen wissen lasse, dass er ihr Unternehmen guthieß; wie sonst könnten sie an einem Ort bleiben, der dem Geist so wenig Nahrung gab?

In dieser Höhe waren die Turmbewohner mit ihrem Schicksal völlig im Reinen; stets grüßten sie die Bergarbeiter freundlich und wünschten ihnen Glück bei ihrer Aufgabe am Himmelsgewölbe. Sie lebten inmitten der klammen Wolkennebel, sahen Stürme von oben und unten, ernteten Obst und Gemüse aus der Luft und fürchteten nie, dass dieser Ort für Menschen unangemessen sein könnte. Ihr Leben war bar göttlicher Versprechen und Ermunterungen, und dennoch waren ihnen Zweifel fremd.

Im Laufe der Wochen kamen sie dem höchsten Punkt, den Sonne und Mond erreichten, jeden Tag immer näher und näher. Der Mond tauchte die Südseite des Turmes in seinen Silberschein und leuchtete, als starre das Auge Jahwes sie an. Alsbald befanden sie sich auf einer Ebene mit dem Mond, wenn er seine Bahn zog; sie hatten die Höhe des ersten Himmelskörpers erreicht. Verwundert blinzelten sie ihm in sein narbiges Gesicht, staunten über das würdevolle Fortschreiten dieser Kugel, die jeglichen Halt verschmähte.

Dann näherten sie sich der Sonne. Es war Sommer, und so schien die Sonne fast über Babylon zu stehen, und sie kam dem Turm immer wieder sehr nahe. In diesem Bereich des Turmes lebten keine Familien, und es gab auch keine Balkone, da die Hitze stark genug war, um Gerste zu rösten. Der Mörtel zwischen den Steinen bestand nicht länger aus Pech, das weich und flüssig geworden wäre, sondern aus Tonerde, die von der Hitze buchstäblich gebacken worden war. Zum Schutz vor den Tagestemperaturen waren die Säulen hier breiter, bis sie fast eine durchgehende Mauer bildeten, welche die Rampe in einen Tunnel einschloss, nur mit schmalen Schlitzen versehen, die den pfeifenden Wind und goldene Lichtklingen hindurchließen.

Bisher hatten sich die Karrenzieher ihren Tagesablauf einigermaßen regelmäßig eingeteilt, doch nun war eine Änderung vonnöten. Jeden Morgen machten sie sich ein wenig früher auf den Weg, um ihr anstrengendes Werk möglichst bei Dunkelheit zu verrichten. Als sie sich mit der Sonne auf einer Höhe befanden, gingen sie nur noch nachts weiter. Tagsüber versuchten sie zu schlafen, nackt und in der heißen Brise schwitzend. Die Bergarbeiter machten sich Sorgen, dass sie, wenn sie denn überhaupt Schlaf fanden, vor Hitze gar nicht mehr aufwachen würden. Doch die Karrenzieher hatten diese Wegstrecke viele Male zurückgelegt und nie auch nur einen Mann eingebüßt, und schließlich ließen sie die Sonne unter sich zurück, und alles war wieder wie vorher.

Das Tageslicht schien nun aufwärts, was über die Maßen unnatürlich wirkte. Von den Balkonen hatte man einzelne Bretter entfernt, sodass das Sonnenlicht durch die Schlitze auf die Erde scheinen konnte, die man dazwischen aufgehäuft hatte. Die Pflanzen wuchsen seitwärts und nach unten, reckten sich den Sonnenstrahlen entgegen.

Dann näherten sie sich der Höhe der Sterne, kleinen, feurigen Kugeln, die überall am Himmel verstreut waren. Hillalum hätte erwartet, dass sie dichter beieinanderliegen würden, doch obwohl es viele kleinere Sterne gab, die von der Erde aus nicht zu erkennen waren, schienen sie ihm hier dünn gesät. Die Sterne befanden sich nicht alle auf einer Höhe, sondern begleiteten sie lange Zeit auf ihrem Weg nach oben. Es war schwer zu sagen, wie weit weg sie waren, da es keinen Vergleich für ihre Größe gab, doch hin und wieder glitt einer von ihnen dicht an ihnen vorbei und stellte dabei seine erstaunliche Geschwindigkeit unter Beweis. Da wurde Hillalum klar, dass alle Himmelskörper sich so schnell über das Firmament bewegten, denn sonst hätten sie die Strecke von einem Rand der Welt zum anderen nicht an einem Tag zurücklegen können.