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Tagsüber war das Blau des Himmels weit blasser, als es von der Erde aus den Anschein hatte, ein Anzeichen dafür, dass sie sich dem Himmelsgewölbe näherten. Wenn Hillalum den Himmel genauer betrachtete, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass die Sterne am Tage zu sehen waren. Von der Erdoberfläche aus konnte man sie gegen den grellen Schein der Sonne nicht erkennen, doch hier oben zeichneten sie sich deutlich ab.

Eines Tages kam Nanni auf ihn zugeeilt und sagte: »Ein Stern ist in den Turm eingeschlagen!«

»Was!« Hillalum sah sich panisch um, als ob ihm jemand einen Schlag versetzt hätte.

»Nein, nicht jetzt. Das ist schon lange her, mehr als ein Jahrhundert. Einer der Turmbewohner erzählt die Geschichte gerade – sein Großvater war dabei.«

Sie begaben sich in die Korridore im Turm und stießen auf einige Bergarbeiter, die sich um einen verhutzelten alten Mann geschart hatten. »... steckte in der Mauer fest, etwa eine halbe Meile über uns. Ihr könnt immer noch die Scharte sehen, die er hinterlassen hat; wie eine riesige Pockennarbe.«

»Was ist mit dem Stern geschehen?«

»Er brannte und zischte und war so hell, dass niemand ihn ansehen konnte. Es wurde erwogen, ihn herauszubrechen, damit er weiter seine Bahn ziehen konnte, aber er war zu heiß, um sich ihm zu nähern, und man wagte es nicht, ihn zu löschen. Wochen später hatte er sich abgekühlt und war zu einem Klumpen schwarzen Himmelsmetalls geworden, so groß, dass ein Mann kaum die Arme um ihn legen konnte.«

»So groß?«, sagte Nanni, die Stimme voller Ehrfurcht. Wenn Sterne von selbst vom Himmel fielen, fand man manchmal kleine Klumpen des Himmelsmetalls, härter als selbst die beste Bronze. Man konnte dieses Metall nicht einschmelzen, sondern nur mit dem Hammer bearbeiten, wenn es rotglühend erhitzt wurde; Amulette wurden daraus gemacht.

»In der Tat, niemand hat je davon gehört, dass ein so großer Klumpen auf der Erde gefunden worden wäre. Könnt ihr euch die Werkzeuge vorstellen, die man aus ihm hätte machen können!«

»Habt ihr etwa versucht, Werkzeuge aus ihm zu schmieden?«, fragte Hillalum entsetzt.

»O nein. Die Leute hatten Angst, ihn anzufassen. Alle stiegen vom Turm herab und warteten darauf, dass Jahwe Vergeltung üben würde, weil sie den Lauf der Schöpfung gestört hatten. Sie warteten monatelang, aber kein Zeichen wurde gesehen. Schließlich kehrten sie zurück und brachen den Stern heraus. Nun ruht er in einem Tempel, unten in der Stadt.«

Alle waren still. Dann sagte einer der Bergarbeiter: »In den Geschichten über den Turm habe ich nie etwas davon gehört.«

»Es war eine Verfehlung, etwas, worüber man nicht spricht.«

Die Farbe des Himmels wurde immer blasser, je höher sie auf den Turm stiegen, bis Hillalum eines Morgens aufwachte, an den Rand der Rampe trat und bestürzt aufschrie: Was bisher wie ein fahler Himmel ausgesehen hatte, schien nun eine weiße Decke zu sein, die sich weit über ihren Köpfen erstreckte. Jetzt waren sie nahe genug, um das Himmelsgewölbe zu sehen, um es als eine feste Schale zu erkennen, die den Himmel umschloss. Die Bergarbeiter sprachen alle im Flüsterton, starrten nach oben wie Idioten, während die Turmbewohner sie auslachten.

Im weiteren Verlauf des Aufstiegs stellten sie überrascht fest, wie nahe sie tatsächlich schon waren. Die weiße Oberfläche des Himmelsgewölbes hatte sie getäuscht – es war fast nicht wahrnehmbar, bis es plötzlich direkt über ihren Köpfen zu sein schien. Nun stiegen sie nicht mehr himmelwärts, sondern hinauf zu einer gleichförmigen Ebene, die sich endlos in alle Richtungen dahinzog.

Alle Sinne Hillalums waren von dem Anblick verwirrt. Wenn er zum Himmelsgewölbe blickte, kam es ihm manchmal so vor, als sei die Welt auf den Kopf gestellt worden, als würde er, wenn er den Halt verlöre, nach oben auf das Gewölbe zustürzen. Seit das Gewölbe über ihm aufgetaucht war, schien es buchstäblich auf ihm zu lasten – so schwer wie die ganze Welt und doch ohne jede Stütze. Eine Angst suchte ihn heim, die er in den Minen nie gekannt hatte: dass die Decke über ihm zusammenbrechen könnte.

Es gab auch Momente, in denen ihm das Gewölbe wie eine vertikale Klippe von unvorstellbarer Höhe vorkam, die sich vor ihm erhob, und die blasse Erde hinter ihm schien genauso eine Klippe zu sein, und der Turm ein Seil, das zwischen beiden straff gespannt war. Am Entsetzlichsten aber war, dass es für einen Augenblick kein Oben und Unten mehr gab und sein Körper nicht wusste, wohin es ihn zog. Das war wie Höhenangst, nur viel schlimmer. Oft erwachte er aus unruhigem Schlaf und bemerkte, dass er schwitzte und seine Finger sich in dem Versuch, sich am Steinboden festzuklammern, verkrampft hatten.

Nanni und viele andere Bergarbeiter schliefen ebenfalls schlecht, obwohl keiner von ihnen über das sprach, was ihre Ruhe störte. Sie kamen immer langsamer voran, und nicht etwa schneller, wie es Beli, ihr Vorarbeiter, erwartet hatte; der Anblick des Gewölbes bereitete ihnen Unbehagen, anstatt ihren Eifer zu befeuern.

Die regulären Karrenzieher verloren allmählich die Geduld mit ihnen. Hillalum fragte sich, was für Menschen solche Lebensbedingungen hervorbrachten; wie gelang es ihnen, nicht wahnsinnig zu werden? Hatten sie sich an all das gewöhnt? Würden Kinder, die hier unter dem festen Himmel auf die Welt kamen, vor Angst schreien, wenn sie den Erdboden unter sich sahen?

Vielleicht waren die Menschen nicht dafür geschaffen, an so einem Ort zu leben. Wenn ihre eigene Natur sie davon abhielt, dem Himmel zu nahe zu kommen, sollten sie wohl besser auf der Erde bleiben.

Als sie die Spitze des Turmes erreichten, verflog die Desorientierung, oder vielleicht waren sie nun immun geworden. Hier, auf der quadratischen Plattform ganz oben, starrten die Bergarbeiter auf den ehrfurchtgebietendsten Anblick, den je ein Mensch gesehen: Weit unter ihnen lag ein Flickenteppich aus Erde und Wasser, vom Dunst verschleiert – und breitete sich in alle Richtungen aus, so weit das Auge reichte. Gleich über ihnen befand sich das Dach der Welt, der Scheitelpunkt des Himmels – höher ging es nicht mehr hinauf. Hier konnten sie einen so großen Teil der Schöpfung auf einmal sehen wie nirgendwo sonst.

Die Priester sprachen ein Gebet an Jahwe, in das alle einstimmten; sie dankten ihm dafür, dass ihnen gewährt war, so viel zu sehen, und baten um Vergebung für ihr Verlangen, noch mehr zu sehen.

Auf der Spitze wurden weiter Backsteine gelegt. Aus den erhitzten Kesseln, in denen die Bitumenklumpen geschmolzen wurden, stieg kräftiger Teergeruch auf. Das war der erdigste Duft, den die Bergarbeiter seit vier Monaten gerochen hatten, und sie sogen begierig die Luft ein, bevor der Wind ihn verwehte. Hier auf der Spitze, wo der Schlamm, der einst aus den Rissen der Erde gesickert war, sich verfestigte, um Steine zusammenzuhalten, wuchs der Erde ein Arm in den Himmel.

Hier arbeiteten die Maurer – Männer, die mit Bitumen beschmiert waren, mischten den Mörtel und setzten mit absoluter Präzision die schweren Steine. Noch weniger als sonst irgendjemand konnten sie es sich leisten, angesichts des Himmelsgewölbes Schwindel zu empfinden, denn der Turm durfte nicht einen Fingerbreit von seiner senkrechten Ausrichtung abweichen. Sie näherten sich dem Ende ihrer Aufgabe, und endlich, nach vier Monaten des Aufstiegs, waren die Bergarbeiter so weit, mit der ihren zu beginnen.