Sie entspannten sich für ein Weilchen und genossen das Feuel, dann stand Naki auf und ging zu dem Tisch mit der Glasplatte. Sie stützte sich darauf und schaute auf den Inhalt hinab. Einen Moment später richtete sie sich auf, als sei sie zu einer Entscheidung gekommen, und öffnete die Seite des Fachs unter der Glasplatte. Sie griff hinein und holte etwas heraus, und als sie zu den Sesseln zurückkam, sah Lilia, dass es das Buch war, das Naki ihr schon einmal gezeigt hatte. Das Buch, das Anweisungen über die Benutzung von schwarzer Magie enthielt.
Ein schwaches Unbehagen regte sich in Lilia, aber sie war zu träge, um auch nur die Stirn zu runzeln.
Mit einem Seufzen ließ Naki sich wieder in ihren Sessel fallen. Sie hob das Buch hoch und musterte es nachdenklich. Dann schlug sie es auf und blätterte vorsichtig in den Seiten.
»Ich könnte wahrscheinlich ganze Absätze daraus zitieren.«
»Wie oft hast du es dir angesehen?«, fragte Lilia.
»Öfter, als ich mich erinnern kann.« Naki zuckte die Achseln. »Mein Vater sollte wissen, dass ich es als Herausforderung auffasse, wenn er mir etwas verbietet.«
»Du hast das ganze Ding gelesen?«
Naki blickte zu Lilia auf und lächelte. »Natürlich. Es ist kein dickes Buch.«
»Also hast du auch den Teil gelesen … der …«
Nakis Lächeln wurde breiter. »Den Teil über schwarze Magie. Ja. Habe ich.« Sie senkte den Blick. »Es ist erstaunlich einfach. Ich habe mich oft gefragt, ob ich es tun könnte, wenn ich diese Anweisungen befolge.«
»Aber man kann schwarze Magie nicht aus einem Buch lernen«, rief Lilia ihr ins Gedächtnis. »Sie muss von Geist zu Geist gelehrt werden.«
»Das ist wahr. Ich frage mich, warum sie sich dann die Mühe gemacht haben, es aufzuschreiben.« Naki blätterte weiter in den Seiten, dann hielt sie Lilia das aufgeschlagene Buch hin. »Was meinst du?«
Trotz des Feuels zögerte Lilia. Schon etwas über schwarze Magie zu lesen war verboten.
»Nur zu«, sagte Naki. »Ich wollte es schon immer jemandem zeigen und ihn nach seiner Meinung fragen, aber ich habe noch nie jemandem genug vertraut.«
Ein Glücksgefühl stieg in Lilia auf, und sie lächelte Naki an, während sie die Hand nach dem Buch ausstreckte. Sie vertraut mir. Sie denkt, meine Meinung sei etwas wert. Sie senkte den Blick auf die offene Seite und begann zu lesen.
… Die Möglichkeiten, mit denen der Körper dies erreicht, werden weniger verstanden als gespürt. So ist es auch mit der höheren Magie. Im frühen Stadium seiner Ausbildung lehrt man einen Meisterschüler, sich seine Magie als ein Gefäß vorzustellen – vielleicht eine Schachtel oder eine Flasche. Während er mehr lernt, begreift er, was seine Sinne ihm sagen: dass sein Körper das Gefäß ist und dass die natürliche Barriere der Magie an der Haut seine Macht im Inneren festhält. Und so kommt es, dass er, sollte er auf eine Bresche in der Barriere einer anderen Person stoßen (wie im Ritual der höheren Magie), seine Sinne in den Körper des anderen ausstrecken kann, und zwar auf eine vollkommen andere Art als beim Heilen. Er erkundet nämlich die Macht im Körper des anderen, nicht dessen Körper selbst. Außerdem kann er diese Macht beeinflussen, sie entfernen oder ihr etwas hinzufügen. Obwohl es möglich ist zu spüren, wie viel Macht eine Person besitzt, ist es nicht möglich einzuschätzen, wie stark die betreffende Person ist. Man kann die körperliche Erschöpfung eines Mannes spüren, der seiner Magie beraubt wurde, was die Vermutung nahelegt, dass die körperliche Energie angezapft wird, sobald die magische Energie aufgebraucht wurde. Aber bevor dieser Punkt erreicht wird, ist es unmöglich festzustellen, ob überhaupt etwas von der Magie weggenommen worden ist. Ebenso ist es schwierig, die Magie gleichzeitig mit dem Körper selbst zu erkunden oder zu manipulieren …
Von diesem Punkt an schwafelte der Autor über Heilkunst. Sein Stil ist schrecklich, ging es Lilia durch den Kopf. Er schreibt einfach immer weiter und weiter und kommt niemals zum Punkt. Es gibt keine Absatzunterteilungen. Sie blätterte die Seiten durch. Kein einziger Absatz in dem ganzen Buch.
»Und? Was denkst du?«, fragte Naki, während sie erneut Feuel in das Kohlebecken legte.
Lilia kehrte zu der Seite über schwarze Magie zurück und zwang sich, die Passage noch einmal zu lesen. »Das ist nicht viel.«
»Mehr als irgendjemand uns je erzählt hat«, bemerkte Naki. »Ich habe versucht, meine Magie so zu spüren, wie er es beschreibt.«
Lilia blickte auf. »Und?«
Naki lächelte. »Ich denke, ich habe den Bogen raus.« Sie beugte sich vor. »Versuch es einmal.«
»Jetzt?«, protestierte Lilia schwach. Sie war zu träge, um irgendwelche geistigen Tricks zu versuchen.
»Ja. Es ist ganz einfach, sobald man die richtige Vorstellung davon hat. Und wenn du ein wenig Rauch in dir hast, wird sich dir dabei ganz schön der Kopf drehen.« Nakis Augen blitzten.
Achselzuckend schloss Lilia die Augen. Sie kämpfte gegen die Lethargie, dann beschwor sie im Geiste ein Bild der Tür herauf, die man sie als den Eingangspunkt zu ihrer Magie zu sehen gelehrt hatte. Sie öffnete die Tür und spürte, wie ihre Sinne kribbelten und die Wirkung des Feuels ein wenig nachließ.
Wie immer stellte sie sich einen Raum in sich selbst vor, winzig und spärlich möbliert, was sie sowohl an das kleine Schlafzimmer erinnerte, das sie mit ihren Geschwistern geteilt hatte, als auch an ihr Zimmer im Novizenquartier. Der Raum war erfüllt von einem warmen Licht.
Aber das Buch sagt, dies sei lediglich eine Methode, um meine Macht zu visualisieren. Die realen Mauern sind die Barriere meiner Haut. Also müsste ich in der Lage sein …
Sie ließ die Mauern los, und sie verblassten und wurden dunkel. Die Wärme und das Leuchten des Lichts entglitten langsam ihrer Wahrnehmung, und es blieb lediglich eine andere Art, sich ihrer bewusst zu sein. Sie erweiterte dieses Bewusstsein bis an seine Grenzen. Sie hatten nicht die Form eines Beines und eines Arms, stellte sie fest, und doch … sie hatte ein Gefühl für ihre körperliche Gestalt, so als ob deren blasses Abbild die Magie in ihr überlagerte.
Für eine gewisse Zeit dachte sie darüber nach, dann fiel ihr Naki wieder ein, und sie zog ihr Bewusstsein aus sich selbst heraus.
»Das ist … erstaunlich«, hauchte sie.
Naki lächelte. »Du hast es geschafft? Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Du bist einfach zu klug.« Sie stand auf, kam näher, stützte sich auf die Armlehne des Sessels und drehte Lilias Hände so, dass sie das Buch lesen konnte. »Lass uns etwas anderes versuchen. Mal sehen, ob du meine Magie spüren kannst.«
»Aber … du müsstest dich schneiden, damit ich das tun könnte.«
Naki beugte sich näher zu Lilia heran. Ihr Atem roch nach Feuel. Sie verzog einladend die Lippen. »Das werde ich für dich tun. Ich würde alles für dich tun.«
Lilia sah ihre Freundin an und spürte, wie ihr Herz warm wurde und sich ausdehnte. »Ich würde auch alles für dich tun«, erwiderte sie aufrichtig.
Nakis Lächeln wurde breit vor Entzücken. »Nun, lass es uns tun«, sagte sie. Sie blickte sich suchend um, dann tänzelte sie zu dem Tisch mit der gläsernen Oberfläche und griff abermals hinein. Was immer sie herausgeholt hatte, war klein und in ihrer Hand verborgen. »Es ist alt, also weiß ich nicht, ob es scharf genug ist … au! Ja, das hat funktioniert.«
Naki hockte sich wieder auf die Sessellehne und streckte die Hand aus. Ein winziges Messer lag darin, und eine kleine, rote Linie, aus der Blutstropfen sickerten, verunzierte ihre Haut. Lilia befiel ein Frösteln, das drohte die Wirkung des Feuels endgültig aus ihrem Kopf zu vertreiben.
»Nur zu. Bevor die Wunde wieder verheilt.«
Ich würde alles für dich tun. Widerstrebend nahm Lilia das Messer in eine Hand und umfasste Nakis Hand mit der anderen. Sie schloss die Augen.
Es war nicht schwer, zu dem neuen Bewusstsein ihrer Magie zurückzufinden. Irgendwie wusste sie, wohin sie ihren Geist senden musste, um ihre Hand zu finden. Und dann spürte sie es. Die Präsenz von etwas anderem war schwach … außer an dieser Stelle. Der Schnitt fühlte sich wie ein Lichtblitz in ihrem Geist an. Er zog sie an wie das Versprechen auf Sonnenlicht am Ende eines Tunnels. Als sie ihn erreichte … Naki.