»Botschafter Dannyl?«
Er blickte auf. Merria rief aus dem Hauptraum nach ihm.
»Kommt herein, Lady Merria«, erwiderte er. Schritte näherten sich, und seine Assistentin trat in die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Er winkte sie heran und bedeutete ihr, auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. »Wie geht es Euch?«, erkundigte er sich.
Sie zuckte die Achseln. »Gut. Ich hatte erwartet, dass es mehr Papierkram und nicht allzu viel Kontakt zu den Menschen hier geben würde, wegen ihrer Sitten in Bezug auf Frauen. Das genaue Gegenteil ist der Fall.«
»Ihr habt viele dieser Frauen gesehen, mit denen Ashaki Achati Euch bekannt gemacht hat?«
»Ja, sie und ihre Freundinnen. Sie haben ein beachtliches Netzwerk. Natürlich treffen sie sich niemals alle gleichzeitig. Die Männer würden denken, dass sie eine geheime Rebellengesellschaft bilden.« Ihr Lächeln verriet ihm, wie sehr sie das erheiterte. »Man sollte meinen, all diese Frauen, die einander Nachrichten zuspielen, würden ihren Argwohn erregen, aber …« Sie hob die Schultern. »Vielleicht bemerken sie es gar nicht.«
Dannyl nickte. »Ich habe nichts darüber gehört. Denkt Ihr, sie organisieren irgendetwas?«
»Ich hätte es nicht geglaubt, nur dass ich einige Tage, nachdem ich eine Bemerkung darüber fallen gelassen hatte, dass Lorkins Mutter gern von ihm hören würde, eine Nachricht bekam, die besagte, dass er in der Stadt der Verräterinnen sei und es ihm gutgehe. Ich wurde außerdem eingeladen, ihm meinerseits eine Nachricht zu schicken.«
Dannyls Herz machte einen Satz. »Wo ist diese Nachricht, die sie Euch gegeben haben?«
Merria schüttelte den Kopf. »Sie wurde mündlich überbracht. Die Frauen schreiben niemals etwas nieder.«
Er dachte über das nach, was sie ihm erzählt hatte. »Meint Ihr, diese Nachricht ist über die Verräterinnen gekommen?«
Sie nickte. »Ich kann nicht erkennen, wie die Nachricht ihn sonst erreichen sollte, wenn er in der Stadt der Verräterinnen ist und nur Verräterinnen jemals dort hingelangen. Es sei denn, es gäbe Spione unter den Spionen.«
»Möglich wäre es.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass diese Frauen nur vorgeben, die Verräterinnen zu hassen, damit die Männer ihnen erlauben, sich zu treffen.«
Dannyl nickte zustimmend. »Verratet das sonst niemandem«, riet er ihr.
Jede Verbindung zu Lorkin war besser als gar keine. Obwohl König Amakira ihm gesagt hatte, er solle sich auf eine andere Weise als mithilfe der Verräterinnen mit Lorkin in Verbindung setzen, wollte Dannyl diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. Er hatte jede Menge Fragen an Lorkin, obwohl die Tatsache, dass andere die Nachricht hören oder sehen würden, seinen Fragen gewisse Beschränkungen auferlegen würde.
Außerdem sollte er sich mithilfe seines Blutrings mit Administrator Osen in Verbindung setzen und herausfinden, ob Sonea Lorkin ebenfalls eine Nachricht schicken wollte.
»Wartet hier«, bat er Merria. »Ich werde feststellen, was die Gilde zu sagen hat.«
Ein Hämmern in ihrem Kopf weckte Lilia. Sie stöhnte. Sie hatte sich schon früher nach dem Gebrauch von Feuel dumpf, niedergeschlagen und müde gefühlt, aber nicht so krank. Vielleicht war der Wein stärker gewesen als üblich. Andererseits hatte sie nicht allzu viel davon getrunken.
Dann begann außerhalb ihres Kopfes ein anderes Hämmern. Jemand klopfte an die Tür. Sie zwang sich, ein Auge zu öffnen, aber natürlich konnte sie nicht durch Türen sehen. Es waren wahrscheinlich die Diener.
»Geht weg«, sagte sie schwach und schloss ihr Auge wieder.
Das Klopfen brach ab. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht konnten die Diener ihr etwas gegen ihre Kopfschmerzen geben. Sie machte den Mund auf, um zu rufen.
Die Tür öffnete sich. Sie riss die Augen auf und sah Magier anstelle von Dienern den Raum betreten; sie brauchte einen Moment, um das zu begreifen.
Sie stemmte sich auf den Ellbogen hoch. Sofort wurde ihr bewusst, dass sie nicht länger Roben trug. Wann hatte sie ihre Nachtgewänder angezogen? Sie griff nach den Laken, um sich zu bedecken, und spürte etwas Trockenes, Bröckliges in den Innenflächen ihrer Hände. Sie drehte die Hände. Etwas Dunkles war auf ihrer Haut getrocknet.
Wein? Ich kann mich nicht erinnern, welchen verschüttet zu haben. Und er wäre klebrig …
Die Magier umstellten das Bett. Sie schaute zu ihnen auf und erkannte einen Heiler, einen Freund Lord Leidens, und … ihr Herz blieb stehen … Schwarzmagier Kallen.
»Lady Lilia?«, fragte Kallen.
»J-ja?« Lilias Herz begann wieder zu schlagen, viel zu schnell. »Was ist passiert?«
»Lord Leiden ist tot«, sagte der Heiler.
Sie starrte ihn entsetzt an. »Wie?« Noch während sie die Frage stellte, überlief sie ein Schauer des Schuldgefühls. Wir haben gestern Nacht versucht, uns schwarze Magie beizubringen. Was haben wir uns nur dabei gedacht? »Wo ist Naki?«
»WIE KONNTEST DU DAS TUN?« Die Stimme war ein Kreischen, aber sie war immer noch als die Nakis zu erkennen. Lilia zuckte zusammen. Ihre Freundin mochte sich den Tod ihres Vaters gewünscht haben, aber sie hatte nicht … Irgendjemand drängte sich an den Magiern vorbei, wurde aber von dem Heiler gepackt. Naki wehrte sich nach Leibeskräften, um ihn abzuschütteln, während sie Lilia anfunkelte.
»Du!«, knurrte Naki.
»Ich?« Lilia starrte ihre Freundin an.
»Du hast ihn getötet!«, schrie Naki. »Meinen Vater!«
»Das habe ich nicht getan.« Lilia schüttelte den Kopf. »Ich bin eingeschlafen. Und nicht wieder aufgewacht.«
Naki schüttelte ungläubig den Kopf. »Wer sonst könnte es getan haben? Ich hätte dich dieses Buch nicht lesen lassen sollen. Ich wollte dich nur beeindrucken.«
Ein Frösteln überlief Lilia. Plötzlich war sie sich Kallens Blick, der sich in ihre Augen bohrte, nur allzu bewusst. »Wie ist er gestorben?«, fragte sie schwach.
»Schwarze Magie«, zischte Naki. Dann senkte sie den Blick. »Was ist das? Was hast du an den Händen?«
Lilia schaute auf die dunklen Flecken hinab. »Ich weiß es nicht.«
»Das ist Blut, nicht wahr?« Nakis Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Das Blut meines Vaters …« Dann füllten ihre Augen sich mit Tränen, sie wirbelte herum und rannte aus dem Raum.
Lilia starrte ihr nach. Sie denkt, ich hätte ihren Vater getötet. Sie hasst mich. Ich habe sie verloren. Aber … ich habe ihren Vater nicht getötet. Oder doch? Ihre Erinnerungen an die vergangene Nacht waren an manchen Stellen vage. Das geschah immer, wenn sie zu viel Wein trank oder zu viel Feuel benutzte. Ihre Träume – waren es Träume gewesen? – hatten sich um eine Fantasie gedreht, in der sie Naki ihres Vaters entledigte, ohne über das Wie überhaupt nachzudenken.
»Habt Ihr Lord Leiden getötet?«, fragte Schwarzmagier Kallen.
Sie zwang sich, zu ihm aufzublicken. »Nein. Ich glaube es nicht.«
»Habt Ihr schwarze Magie erlernt oder zu erlernen versucht?«
Wie sollte sie diese Frage beantworten? Sie stellte fest, dass sie keine Worte fand. Ihr Kopf hämmerte so heftig, dass sie glaubte, er werde jeden Moment bersten.
»Lady Naki hat zugegeben, versucht zu haben, aus einem Buch schwarze Magie zu erlernen«, sagte der Heiler. »Sie behauptet, Lilia habe das Gleiche getan.«
Eine verräterische Erleichterung stieg in Lilia auf. Sie nickte. »Sie hat ein Buch. Nun, es gehört – gehörte – ihrem Vater. Er bewahrt es in der Bibliothek in einem Tisch mit gläserner Oberfläche auf. Sie hat es herausgeholt, und wir haben es gelesen – aber es ist angeblich nicht möglich, schwarze Magie aus einem Buch zu lernen.«
Kallen zuckte nicht mit der Wimper. »Trotzdem ist der Versuch verboten.«
Sie senkte den Blick. »Ich habe ihren Vater nicht getötet.« Wieder regte sich Zweifel in ihr und schlängelte sich in ihre Gedanken.