»Ist das die Angeklagte?«, erklang eine neue Stimme.
Die Magier drehten sich zur Tür um, so dass Lilia an ihnen vorbeischauen konnte. Ihr wurde flau im Magen, als sie Schwarzmagierin Sonea näher kommen sah. Nicht dass ein weiterer Schwarzmagier ihre Situation noch schlimmer gemacht hätte. Sie hatte Sonea immer bewundert, obwohl einem das, was die Schwarzmagierin in ihrem Leben alles getan hatte, durchaus Furcht einflößen konnte.
»Ja«, antwortete Kallen und trat vom Bett weg. »Ich werde in die Bibliothek gehen, um nach einem Buch zu suchen, das Anweisungen für die Benutzung von schwarzer Magie enthält. Sie haben beide gestanden, sich damit beschäftigt zu haben. Könntet Ihr die Gedanken der beiden Mädchen lesen?«
Sonea zog die Augenbrauen hoch, aber sie nickte. Als Kallen den Raum verließ, wandte sie sich den anderen Magiern zu.
»Zumindest sollten wir ihr gestatten, sich anzukleiden«, sagte sie. »Ich werde hierbleiben.«
»Findet heraus, was sie an den Händen hat, bevor sie es sich abwäscht«, rief der Heiler.
Lilia schaute ihnen nach, und als die Tür geschlossen war, schlüpfte sie aus dem Bett.
»Zeigt mir Eure Hände«, verlangte Sonea. Sie ergriff sie mit ihren eigenen Händen, die seltsam klein für eine so mächtige Magierin erschienen. Nicht dass Magie dazu führt, dass man größere Hände bekommt, ging es Lilia durch den Kopf. Also, das wäre unangenehm. Sonea hob eine von Lilias Händen, schnupperte daran und zog Lilia dann zum Waschbecken hinüber, wo sie etwas Wasser hineingoss.
»Wascht Euch«, befahl sie.
Lilia gehorchte mit einiger Erleichterung. Es dauerte ein Weilchen, bis sie den Fleck abgerieben hatte.
»Wir brauchen mehr Licht«, murmelte Sonea. Sie schaute zu den Rollos hinüber, die die Fenster bedeckten und im nächsten Moment nach oben glitten. Der Raum füllte sich mit Morgenlicht. Lilia schaute hinab und schnappte nach Luft.
Das Wasser hatte sich rot verfärbt.
»Aber wie …? Ich erinnere mich nicht …«, stieß sie hervor.
Sonea beobachtete sie nachdenklich. Sie trat einen Schritt zurück. »Zieht Euch an«, sagte sie, und ihr Tonfall lag irgendwo zwischen einem Befehl und einem Vorschlag. »Dann werden wir herausfinden, woran Ihr Euch erinnern könnt.«
Lilia gehorchte und schlüpfte so schnell sie konnte in ihre Novizenroben. Als sie damit fertig war, die Schärpe zu verknoten, ging sie zu Sonea hinüber. Die Schwarzmagierin streckte die Hände aus und legte sie links und rechts an Lilias Kopf.
Noch nie zuvor hatte ein Schwarzmagier Lilias Gedanken gelesen. Nun, es hatte auch kein gewöhnlicher Magier jemals ihre Gedanken gelesen. Ihre Lektionen an der Universität hatten es gelegentlich erforderlich gemacht, dass ein Lehrer in ihren Geist eindrang, aber man brachte den Novizen bei, ihre Gedanken hinter imaginierten Türen zu verbergen. Wenn eine Person es aus freien Stücken zuließ, dass ihre Gedanken gelesen wurden, sollten die hinter den Türen versteckten Erinnerungen hervortreten, so dass der Gedankenleser sie sehen konnte.
Dies war etwas anderes. Sofort nahm Lilia die Präsenz der älteren Frau in ihrem Geist wahr. Aber wie in weiter Entfernung, als höre sie Stimmen durch eine Mauer. Dann spürte sie etwas, das ihre Gedanken beeinflusste. Sie konnte den Willen dahinter nicht spüren, also zeigte ihr instinktiver Versuch, sich dem zu widersetzen, keine Wirkung. Sie zwang sich nachzugeben und beobachtete, wie die Erinnerungen an die vergangene Nacht wiederkehrten.
Verlegenheit und Furcht machten sich in ihr breit, als sie sich an Nakis Kuss erinnerte, aber sie konnte bei Sonea keine Missbilligung wahrnehmen. Ihre Erinnerungen waren jetzt etwas weniger vage, da jemand anderer sie betrachtete, aber es gab Zeitspannen, die undeutlich waren.
Eine dieser Zeitspannen betraf die Stunden, nachdem Lilia sich neben Naki gelegt und sie den Wein getrunken hatte. Ihre Gedanken waren mörderisch gewesen, rief sie sich beschämt ins Gedächtnis. Aber sie erinnerte sich nicht daran, tatsächlich jemanden ermordet zu haben. Es sei denn, in ihren Träumen. Aber waren es Träume?
Was war, wenn sie Nakis Vater ermordet hatte, während sie einen von Wein und Feuel herbeigeführten Tagtraum gehabt hatte?
Was, wenn ihrer beider Experiment funktioniert und sie tatsächlich schwarze Magie aus einem Buch erlernt hatte?
– Oh, das habt Ihr ganz gewiss getan, erklang Soneas Stimme in ihrem Kopf. Es wird für unmöglich gehalten. Nicht einmal Akkarin glaubte, dass es möglich sei. Aber es hat mindestens einen anderen Novizen in der Geschichte gegeben, der schwarze Magie ohne die Hilfe eines anderen Magiers erlernt hat, und die Magier jener Zeit müssen einen Grund gehabt haben für ihre Entschlossenheit, alle Schriften darüber zu zerstören. Bedauerlicherweise ist der Umstand, dass Ihr unsere Vermutung widerlegt habt, keine Leistung, die irgendjemand wohlwollend betrachten wird. Warum habt Ihr es versucht, obwohl Ihr wusstet, dass es verboten war?
– Ich weiß es nicht. Ich habe mich einfach Naki angeschlossen. Sie hat mir gesagt …
Sie hatte Lilia gesagt, dass sie ihr vertraue. Würde sie ihr jemals wieder vertrauen?
Plötzlich wurde ihr das ganze Ausmaß von Verlust und Schock bewusst, und sie brach in Tränen aus. Soneas Berührung verschwand aus ihrem Kopf und verlagerte sich auf ihre Schultern, die die ältere Frau sanft, aber energisch massierte, während Lilia sich mühte, ihre Fassung wiederzufinden.
»Ich werde nicht behaupten, alles werde wieder gut werden«, sagte Sonea seufzend. »Aber ich denke, ich kann sie überzeugen, dass es nicht direkt vorsätzlich geschah, und sie dazu bewegen, eine mildere Strafe zu verhängen. Doch das wird davon abhängen, woran Naki sich erinnert.«
Eine mildere Bestrafung? Lilia schauderte, als sie sich daran erinnerte, was man sie im Geschichtsunterricht gelehrt hatte. Akkarin wurde nur deshalb in die Verbannung geschickt, weil die Gilde nicht wusste, ob sie ihn besiegen konnte. Anderenfalls hätten sie ihn hingerichtet. Aber schließlich hatte er Menschen mit schwarzer Magie getötet. Ich habe das nicht getan … hoffe ich.
Wenn sie es nicht getan hatte, würde Sonea keine Beweise in Nakis Geist entdecken. Plötzlich wünschte Lilia sich dringend, dass Sonea zu ihr gehen und es herausfinden würde. Das letzte Verlangen zu weinen verschwand.
»Geht es Euch jetzt wieder gut?«, fragte Sonea.
Lilia nickte.
»Bleibt hier.«
Das Warten war eine Folter. Als Sonea endlich zurückkam, mit Schwarzmagier Kallen und zwei weiteren Magiern, war ihre Miene grimmig.
»Sie hat den Tod ihres Vaters nicht mit angesehen«, berichtete ihr Sonea. »Noch findet sich in ihrem Geist irgendein Beweis dafür, dass Ihr ihn getötet habt, abgesehen von der Art seines Todes und des Bluts an Euren Händen. Beides könnte Zufall sein.«
Lilia seufzte vor Erleichterung. Ich habe es nicht getan, sagte sie sich.
»Ihre Erinnerungen an die vergangene Nacht unterscheiden sich sehr von Euren«, fuhr Sonea fort. »Aber doch nicht so, dass ein Missverständnis diese Unterschiede nicht erklären könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Obwohl Ihr Euch daran erinnern könnt, es gespürt zu haben, hat sie keine schwarze Magie gelernt.«
Daraufhin stieg in Lilia eine bittersüße Erleichterung auf. Zumindest hatte Naki kein ebenso großes Verbrechen begangen wie sie selbst. Aber sie hatte versucht, schwarze Magie zu erlernen, daher bezweifelte Lilia, dass sie einer Bestrafung gänzlich entgehen würde.
Vielleicht können wir uns jetzt, da sie weiß, dass ich ihren Vater nicht getötet habe, gemeinsam dem stellen, was uns erwartet.
Aber als die Magier Lilia aus dem Raum begleiteten, war Naki da und funkelte sie derart wütend an, dass ihre Hoffnungen zu schwinden begannen.