»Wer bewacht Lilia?«, fragte er beunruhigt.
Sonea sah Kallen an und bemerkte ein Aufblitzen der gleichen Erheiterung, die sie selbst empfand. »Lilia ist nicht stärker, als sie es natürlicherweise immer war«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Die beiden Magier, die sie bewachen, werden keine größere Mühe mit ihr haben, als ich selbst und Schwarzmagier Kallen es hätten.«
Er blinzelte, dann lief er dunkelrot an. »Ah. Verzeiht mir. Das hatte ich vergessen.«
»Also hat Lilia von niemandem Macht genommen?«, fragte Vinara und sah Sonea an.
»Ich habe in ihr kein unnatürliches Ausmaß an Macht entdeckt. Sie könnte Macht genommen und sie dann benutzt haben, aber sie kann sich nicht daran erinnern, es getan zu haben, nur dass …«
Osen räusperte sich und hob die Hände zum Zeichen, dass sie ihre Gespräche einstellen sollten. »Vergebt mir die Unterbrechung, aber lasst uns am Anfang beginnen.« Er schaute in den hinteren Teil des Raums. »Lord Roah und Lord Parrie, berichtet uns bitte, wann Ihr von Lord Leidens Ermordung erfahren habt.«
Der Heiler und der Alchemist traten vor. Alle drehten sich zu ihnen um, und es war Letzterer, der das Wort ergriff.
»Ich unterhielt mich gerade mit Lord Roah, als von Lady Naki die Nachricht kam, ihr Vater sei während der Nacht ermordet worden. Wir sind direkt zu ihrem Haus gegangen, wo sie uns Lord Leidens Leichnam zeigte und uns eröffnete, dass Lilia ihn getötet haben müsse. Lord Roah untersuchte Leiden und stellte fest, dass jemand ihm alle Macht entzogen hatte, während ich Naki dazu befragt habe, warum sie denke, dass ihre Mitschülerin dafür verantwortlich sei.« Er hielt mit bekümmerter Miene inne. »Sie hat gestanden, den vergangenen Abend mit Lilia damit verbracht zu haben, ein Buch über schwarze Magie zu studieren. Sie hatten beide mit den Anweisungen experimentiert und wähnten sich sicher vor den Gefahren eines Erfolgs, weil man ihnen gesagt hatte, schwarze Magie könne nicht aus einem Buch erlernt werden. Sie hatte keinen Erfolg gehabt, und Lilia behauptete ebenfalls, gescheitert zu sein, aber jetzt, da ihr Vater mit schwarzer Magie getötet worden war, fiel Naki niemand anderer ein, der daran die Schuld tragen konnte.« Er sah Kallen an. »Schwarzmagier Kallen erschien, und wir gingen ins Gästezimmer. Lilia schlief, erwachte aber bei unserem Eintreffen. Sie wirkte überrascht und schockiert über die Neuigkeit und Nakis Anklagen.«
»Aber sie schien getrocknetes Blut an den Händen zu haben«, fügte der Heiler hinzu. Er wandte sich an Sonea. »War es Blut?«
Sonea nickte. »Ja.«
»War viel Blut an Lord Leidens Körper und dort, wo er gelegen hatte?«
»Ein wenig. Die Schnittwunde war saubergewischt worden.«
»Das ist seltsam«, sagte Lady Vinara. »Warum den Leichnam säubern, aber nicht die Hände?«
»Vielleicht ist ihr in der Aufregung und Dunkelheit nicht aufgefallen, dass sie sich die Hände beschmutzt hatte«, meinte Garrel.
»Lilia kann sich nicht daran erinnern, wie das Blut auf ihre Hände gelangt ist«, bemerkte Sonea. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie. Sie sah Lord Parrie an, der nickte und erklärte, er sei mit seinem Bericht am Ende. »Lilia lag noch im Bett, als ich eintraf«, erklärte sie. »Kallen war fortgegangen, um nach dem Buch zu suchen, während ich das Blut untersucht und Lilias Gedanken gelesen habe. Sie hatte infolge einer Nacht mit Feuel und Wein üble Kopfschmerzen, und ich habe den Verdacht, dass ihr Gedächtnisverlust zum großen Teil auf diese Einflüsse zurückzuführen ist. Sie erinnert sich daran, dass Naki die Initiative mit dem Buch ergriffen hat. Sie gingen in die Bibliothek, wo Naki das Buch aus seinem Versteck holte – wie sie es schon in der Vergangenheit getan hatte. Naki schlug die Seite auf und drängte Lilia zu lesen. Dann probierten sie abwechselnd die beschriebenen Schritte aus. Lilia als Erste, danach Naki.« Sonea hielt inne und widerstand dem Drang, das Gesicht zu verziehen. »Lilia erinnert sich deutlich daran, den erforderlichen Geisteszustand erreicht und sogar ein wenig Macht von Naki genommen zu haben.« Ein allgemeines Aufkeuchen erklang im Raum. »Sie erinnert sich auch daran, dass Naki Macht von ihr genommen hat. Dann gingen sie wieder in das Gästeschlafzimmer, um Wein zu trinken und zu reden, und während des Gesprächs verlieh Naki dem Wunsch Ausdruck, dass Lilia sie von ihrem Vater befreien möge, der ihren Zugang zu Wein, Feuel und Geld eingeschränkt hatte. Danach erinnert Lilia sich an nichts mehr, bis sie am Morgen erwachte.« Sonea räusperte sich und fuhr mit etwas lauterer Stimme fort. »Naki erinnert sich an die gleichen Ereignisse, aber aus einer ganz anderen Perspektive. Sie erinnert sich daran, dass Lilia sie überredet hat, das Buch zu holen, um sie anschließend zu ermutigen, die darin enthaltene Lektion auszuprobieren, und Naki fügte sich, weil sie sie beeindrucken wollte – und weil sie nicht glaubte, dass sie Erfolg haben würde. Sie konnte die Anweisungen jedoch nicht verstehen, und als ich nach einer Erinnerung an die Gefühle oder das Wissen suchte, die mit der Benutzung schwarzer Magie einhergehen, konnte ich nichts finden. Allerdings hat Naki tatsächlich dem Wunsch Ausdruck verliehen, dass Lilia sie von ihrem Vater befreien möge, was sie jetzt bereut.«
»Wie können die beiden so unterschiedliche Erinnerungen haben?«, fragte Peakin.
»Sie haben beide jeweils vieles an Erwartungen in den anderen hineinprojiziert«, antwortete Sonea. »Sie haben die Motive und Wünsche des anderen missverstanden. Beide Mädchen dachten, die andere dränge sie dazu, schwarze Magie auszuprobieren, und dass sie, wenn sie sich weigerte, für schwach und langweilig gehalten werden würde.« Einmal mehr zögerte Sonea, die Schwärmerei zu enthüllen, die Lilia für Naki hegte. Sie hatte als Kind in den ehemaligen Hüttenvierteln gelernt, dass sich solche Bande auf natürliche Weise sowohl zwischen Männern als auch zwischen Frauen bilden konnten. Sie sah darin keinen größeren Schaden als in einer Liebesbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Aber sie wusste, dass viele anderer Meinung waren, und es stimmte, dass nicht alle Schwärmereien, ungeachtet des Geschlechts, für die Betroffenen zum Besten waren. Obwohl Lilias Gefühle einseitig gewesen waren, hatte Naki sie offenkundig ermutigt. Es war anscheinend Teil ihrer verwegenen, vergnügungssüchtigen Abenteuer gewesen.
Lady Vinara seufzte. »Ah, junge Menschen können solche Narren sein.«
Wie wahr das ist, dachte Sonea. Aber dies ist eine private Angelegenheit, und es ist noch nicht wichtig für die begangenen Verbrechen. Es wäre grausam, es zu enthüllen.
»Wir haben ihnen gesagt, dass sie aus Büchern keine schwarze Magie erlernen könnten«, rief Direktor Jerrik ihnen ins Gedächtnis. »Allerdings haben wir ihnen außerdem verboten, Bücher zu diesem Thema zu lesen. Aber das muss es für bestimmte Personen umso verführerischer machen. Es muss manchem als eine relativ ›sichere‹ Art erschienen sein, den Regeln zu trotzen, ohne gleich aufs Ganze zu gehen.«
»Wir haben uns geirrt«, erklärte Garrel und machte sogar den Eindruck, als bedauere er das, wie Sonea auffiel.
»Ja, wir sind zum Teil mitschuldig«, sagte Osen. »Was die Entscheidung noch schwerer machen wird, wie wir mit Naki und Lilia verfahren sollen.«
Sonea sah viele der Anwesenden zustimmend nicken.
»Ich denke nicht, dass irgendjemand uns für pflichtvergessen halten würde, wenn wir eine mildere Strafe wählen, als die alten Vorschriften sie vorschreiben«, meldete Vinara sich zu Wort.
Diesmal nickten alle. Zwei Novizinnen dafür hinzurichten, dass sie mit etwas herumgespielt haben, von dem wir ihnen erklärt hatten, es sei ungefährlich, würde jetzt große Empörung verursachen, überlegte Sonea. Wie sehr sich die Einstellung schwarzer Magie gegenüber doch verändert hat.
»Naki hat keine schwarze Magie erlernt«, sagte Peakin. »Sie kann nicht für den Tod ihres Vaters verantwortlich sein. Sie sollte eine mildere Strafe erhalten.«