»Ja«, brachte Lilia heraus; ihre Stimme war heiser vom Weinen und von den langen Stunden der Einsamkeit. »Nicht reden mit … es sei denn, man fordert mich dazu auf.« Sie konnte Nakis Namen nicht aussprechen, und Sonea wandte sich, anscheinend zufrieden, ab.
Sie gingen an der ganzen Länge der Universität vorbei zum Vordereingang. Die Taubheit, die Lilia verspürte, seit sie in der Gilde angekommen und in die Kuppel gesperrt worden war, begann zu verebben, als sie die Stufen hinaufstiegen, und wurde durch eine wachsende Furcht verdrängt. Sie würde vor allen Magiern der Gilde stehen und deren Blicke und Missbilligung ertragen müssen. Alle würden sich fragen, ob sie eine Mörderin war. Alle würden wissen, dass sie schwarze Magie erlernt hatte. Ganz gleich ob sie dachten, sie habe es aus Dummheit oder mit böser Absicht getan, sie würden sie verachten.
Lilia dachte an die Enttäuschung, die sie für ihre Familie sein musste, und drängte den Gedanken hastig beiseite. Sie durchquerten zügig die spektakuläre Eingangshalle der Universität und gingen den Flur entlang zur Großen Halle. Zu ihrer Erleichterung trafen sie auf dem Weg zu dem uralten Bau innerhalb der riesigen Halle nicht eine Menschenseele. Sie hatte erwartet, dass vor dem Eingang zur Großen Halle zumindest einige Novizen herumlungern würden, um so viel wie möglich mitzubekommen.
Die Türen zur Gildehalle wurden geöffnet, und Lilia gefror das Blut in den Adern.
Der Raum zwischen den Sitzreihen zu beiden Seiten der Halle war mit Stühlen gefüllt, und auf den Stühlen saßen Novizen in braunen Roben und verrenkten sich den Hals, damit sie sehen konnten, wie Lilia hereinkam.
Sie richtete den Blick auf den Boden. Das Herz donnerte ihr in den Ohren, während sie ihre zitternden Beine zwang, sie den Gang hinunterzutragen. Falls irgendwelche Novizen etwas flüsterten – falls irgendwelche etwas riefen –, hörte sie es nicht. Das Blut rauschte in ihren Ohren und übertönte alle anderen Geräusche. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und darauf, ein bebendes Bein vor das andere zu setzen.
Sie erreichten die Stirnseite der Halle und gingen nach rechts, wo Sonea stehen blieb und Lilia sanft eine Hand auf die Schulter legte.
»Bleibt hier«, murmelte sie, dann eilte sie weiter und stieg die steile Treppe zu ihrem Platz unter den Höheren Magiern hinauf. Lilia, die sie beobachtete, sah, dass einige der Höheren Magier die Stirn runzelten. Ein Magier sagte etwas, aber Sonea machte eine beruhigende, wegwerfende Handbewegung.
Dann begegnete Lilia dem Blick eines Höheren Magiers, der sie anstarrte, und sie schaute hastig wieder zu Boden.
»Ihr habt die Berichte der wenigen Zeugen dieser Ereignisse gehört«, dröhnte eine männliche Stimme. Lilia schaute auf und sah, dass der in eine blaue Robe gekleidete Administrator in der Mitte der Stirnseite stand. Sie hatte so konzentriert zu Boden geblickt, dass sie ihn dort nicht bemerkt hatte. »Ihr habt gehört, was Schwarzmagierin Sonea in den Gedanken der beiden jungen Frauen gefunden hat, die vor uns stehen. Jetzt lasst uns hören, was sie zu sagen haben. Lady Naki.«
Ein Schauer überlief Lilia, und als sie Osens Blick folgte, sah sie, dass Naki nur etwa zehn Schritte von ihr entfernt stand, auf der von ihr aus linken Seite des Raums. Ihr wurde beim Anblick des vertrauten, schönen Gesichts leichter ums Herz, aber dieses Gefühl flaute schnell wieder ab und machte einem Schmerz Platz, der Lilia den Atem stocken ließ.
»Ja, Administrator Osen«, erwiderte Naki gelassen und ein wenig kalt. Sie stand mit durchgedrücktem Rücken und hoch erhobenem Kopf da. Unter ihren roten Augen lagen dunkle Ringe. Sie wirkt stark, aber auch wie jemand, der jeden Moment zusammenbrechen könnte, ging es Lilia durch den Kopf. Wie wirke ich, mit vorgebeugten Schultern und außerstande, irgendjemanden anzusehen? Ich muss so schuldig wirken, wie sie es mir unterstellen.
Naki erzählte ihre Geschichte. Bei jedem Wort wurde Lilia ein wenig kälter, bis sie bis ins Mark fror. Aber sie war diejenige, die das Buch lesen und schwarze Magie ausprobieren wollte! Es war allein ihre Idee! Als Naki beschrieb, wie sie den Leichnam ihres Vaters gefunden hatte, drehte sie sich um und funkelte Lilia an.
»Sie hat ihn getötet. Wer hätte es sonst sein können? Sie muss aus dem Buch gelernt haben. Vielleicht beherrschte sie schon schwarze Magie.« Nakis Gesicht zerfiel, und sie bedeckte es mit den Händen. »Warum? Warum hast du es getan?«
Lilia wollte vor Mitleid fast das Herz zerspringen. »Ich habe es nicht getan, Naki. Ich …«, begann Lilia, aber Osen sah sie stirnrunzelnd an, und sie schluckte die Worte herunter.
Nach einer Pause, während Naki ihre Fassung wiederfand, befragten die Höheren Magier sie, aber Lilia schien es, als erwarteten sie, nicht mehr zu erfahren, als man ihnen bereits erzählt hatte. Osen wandte sich Lilia zu, und sie holte tief Luft und hoffte, dass ihre Stimme fest bleiben würde.
»Lady Lilia«, sagte er. »Berichtet uns, was in der Nacht geschah, in der Ihr Euch in Lady Nakis Haus aufgehalten habt.«
Sie versuchte zu erklären, aber wann immer sie etwas beschrieb, das sich von Nakis Schilderung unterschied, gab das andere Mädchen leise Laute des Abscheus oder des Protests von sich, und Lilia sprach hastig weiter. Erst als sie das Thema des Buches hinter sich ließ, wurde Lilia bewusst, dass sie hätte erwähnen sollen, dass Naki es ihr schon früher gezeigt hatte, aber es schien ihr in dem Moment die Mühe nicht wert zu sein, noch einmal zu dem Punkt zurückzukehren und diese Einzelheit hinzuzufügen. Als Osen sie nach dem Blut auf ihren Händen fragte, fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie gespürt hatte, wie Naki Macht von ihr nahm, aber als sie versuchte, es Osen zu erzählen, wertete er es als eine Bemühung, die Aufmerksamkeit von dem Blut abzulenken. Schließlich wurden seine Fragen direkter.
»Habt Ihr versucht, schwarze Magie zu erlernen?«
»Ja«, antwortete sie und spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde.
»Hattet Ihr Erfolg?«
»Ja«, stieß sie gezwungen hervor. »Zumindest sagt das Schwarzmagierin Sonea …«
»Habt Ihr Lord Leiden getötet?«
»Nein.«
Er nickte und sah die Höheren Magier an, und Lilia wappnete sich gegen ihre Fragen. Sie hatten mehr Fragen an sie als an Naki. Als die Tortur vorüber war und Osen seine Aufmerksamkeit endlich auf den Rest der Halle richtete, verspürte sie eine ungeheure Erleichterung.
»Wir haben nicht genug Beweise, um irgendjemanden wegen der Ermordung Lord Leidens anzuklagen«, sagte er. »Obwohl die Nachforschungen dazu keineswegs beendet sind. Es wurden jedoch zwei Verbrechen zugegeben: der Versuch, schwarze Magie zu erlernen, und das Erlernen von schwarzer Magie. Die Hohen Magier haben über die geziemenden Strafen für diese Verbrechen entschieden und dabei das Alter der Angeklagten und die Absicht hinter ihren Taten berücksichtigt.« Er hielt inne. »Die Strafe für Lady Naki, die zugibt, versucht zu haben, schwarze Magie zu erlernen, jedoch keinen Erfolg hatte, ist ein dreijähriger Ausschluss von der Universität, nachdem ihre Kräfte blockiert wurden. Nach Ablauf dieser Zeit wird man ihr Verhalten noch einmal betrachten, und wenn es als befriedigend erachtet wird, darf sie zurückkehren.«
Die zuschauenden Magier und Novizen stießen einen schwachen Seufzer aus, dem ein leises Raunen von Gesprächen folgte, aber es wurde sofort wieder still in der Halle, als Osen weitersprach.
»Die Strafe für Lady Lilia, die zugibt, versucht zu haben, schwarze Magie zu erlernen, und Erfolg dabei hatte, ist der Ausschluss aus der Gilde. Ihre Kräfte werden blockiert werden, und sie wird an einem geziemend sicheren Ort verbleiben müssen. Ihre Strafe werden wir in zehn Jahren noch einmal überdenken.«
Kein Seufzer kam von den Magiern und Novizen in der Halle. Stattdessen setzte das Gemurmel unverzüglich ein und wurde lauter. Osen runzelte die Stirn, da er den Ton der Unzufriedenheit hörte. Lilia wurde flau im Magen.
Sie denken, die Strafe sei nicht hart genug. Sie denken, ich sollte hingerichtet werden. Sie …