»Ja. Besteht irgendeine Notwendigkeit, noch zu warten?«, erwiderte Achati.
»Nicht die geringste«, versicherte ihm der Kapitän. Er ging davon und rief den Sklaven Befehle zu. Achati führte Dannyl und Tayend an einen sicheren Platz, von dem aus sie alles beobachten konnten.
»Es wird eine nette Abwechslung vom Leben in der Stadt sein«, bemerkte Achati, als das Schiff sich vom Kai entfernte.
Dannyl nickte. »Es ist zu lange her, seit ich das letzte Mal auf einem Schiff gereist bin.«
»Ja! Ein Abenteuer für uns alle«, bemerkte Tayend, dessen Stimme ein wenig angespannt klang. Dannyl fiel auf, dass sein ehemaliger Geliebter schon jetzt etwas blass wirkte.
Achati schenkte dem elynischen Botschafter ein Lächeln. Es war ein nachsichtiges Lächeln. Beinahe ein Lächeln der Zuneigung. Plötzlich kam Dannyl der Gedanke, dass Achati Tayend dabeihaben wollte. Er hatte angenommen, dass das ursprünglich nicht der Wunsch des Ashakis gewesen war, dass Tayend ihn aber politisch und gesellschaftlich in die Enge getrieben habe. Er wandte sich dem Elyner zu.
»Lass mich wissen, wenn du Hilfe brauchst«, bot er an.
Tayend nickte dankend. »Ich habe die Heilmittel, die Achati mir empfohlen hat.«
»Als Euer Führer bin ich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Eure Reise nicht allzu unangenehm wird«, sagte Achati. »Aber vergesst nicht: Die Heilmittel könnten Nebenwirkungen haben.«
Tayend neigte den Kopf. »Ich habe es nicht vergessen. Ich … ich denke, ich werde mich jetzt hinsetzen.«
Er ging zu einer einige Schritte entfernten Bank. Dannyl widerstand dem Drang, Achati anzusehen und nach irgendwelchen Anzeichen zu suchen, dass … er war sich nicht sicher, was.
Vielleicht ist er auch, was Tayend betrifft, an mehr als bloßer Freundschaft interessiert.
Vielleicht sind sie bereits mehr als Freunde. Vielleicht stand hinter Tayends Warnung vor Achati Eifersucht …
Oh, mach dich nicht lächerlich!
Als das Schiff sich weiter vom Ufer entfernte, wünschte sich Dannyl, dass Achati – oder selbst Tayend – ein Gespräch beginnen würde, damit er von den Verdächtigungen, die sein Verstand heraufbeschwor, abgelenkt wurde. Als keiner der beiden etwas sagte, dachte er darüber nach, welches Thema er selbst anschneiden könnte.
Er wusste, worüber er gern gesprochen hätte. Aber in Tayends Gegenwart konnte er nicht über das reden, was er auf dieser Reise zu erfahren hoffte, für den Fall, dass der Elyner noch nichts von dem Lagerstein wusste.
Dann deutete Achati auf das Ufer.
»Seht Ihr dieses Gebäude? Das ist eins der wenigen Herrenhäuser, die über zweihundert Jahre alt sind und nicht nach sachakanischer Mode gebaut wurden. Gebaut haben es …«
Dannyl stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Danke, Achati, dachte er. Obwohl ich glaube, du hast dich gerade dazu verurteilt, für den Rest der Reise Phasen des Schweigens mit Beschreibungen und historischen Exkursen zu füllen – aber wenigstens wird uns das vor Tagen verlegenen Schweigens bewahren.
Lilia hatte immer vermutet, dass eine Einkerkerung unter anderem dazu diente, dem Betreffenden nichts anderes zu tun zu geben, als über sein Verbrechen nachzudenken.
Ich glaube, bei mir funktioniert es nicht, überlegte sie. Oh, ich habe reichlich Zeit damit verbracht zu bedauern, schwarze Magie erlernt zu haben, und mich deswegen wie eine Närrin zu fühlen. Aber ich habe viel mehr Zeit damit verbracht, über Naki nachzudenken, und das fühlt sich erheblich schlimmer an.
Selbst wenn sie versuchte, an etwas anderes zu denken, besonders daran, ob Lord Leidens Mörder bereits gefunden worden war, wusste sie, dass sie sich in Wirklichkeit um Naki sorgte.
Da die Gilde keinerlei Beweise dafür gefunden hatte, dass sie Leiden getötet hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie es tatsächlich nicht getan hatte. Aber um Nakis willen hoffte sie, dass irgendjemand herausfand, wer der Schuldige war. Wenn man Leidens Mörder gefunden hat, wird gewiss jemand herkommen und es mir erzählen. Es würde, was ihre Strafe betraf, keinen Unterschied machen, da sie dafür bestraft wurde, schwarze Magie erlernt zu haben – aber wenigstens würde Naki sie dann nicht mehr hassen. Schwarzmagierin Sonea wird es mir sagen, dachte sie. Es wäre noch besser, wenn Naki selbst es mir erzählte. Vielleicht wird sie mich regelmäßig besuchen … nein, ich sollte mir besser keine zu großen Hoffnungen machen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Aber wenn sie mich genauso liebt wie ich sie, wird sie mich bestimmt besuchen.
Sie versuchte, an schönere Dinge zu denken, aber irgendetwas machte sie immer trüb. Es war wie an dem Abend, als sie in dem Glühhaus gewesen waren und sie sich eingebildet hatte, dass jemand sie beobachtete. Ihre Gedanken brachten es immer fertig, sich trostloseren Dingen zuzuwenden.
Bisweilen suchte sie nach Ablenkung und ging im Raum umher. Manchmal drückte sie ein Ohr an die Seitentür, und gelegentlich konnte sie die andere Frau vor sich hin summen hören.
Nachdem sie wieder einmal zum Fenster zurückgekehrt war, an das sie sich einen Stuhl gestellt hatte, stützte sie sich auf die Fensterbank. Dort draußen veränderte sich zumindest etwas, selbst wenn es nur ein Vogel war, der über die Baumwipfel flog, oder die Neigung der Schatten, während die Stunden langsam verstrichen. Den Anblick ihres Zimmers war sie inzwischen gründlich leid.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Sie setzte sich aufrecht hin und drehte sich um, um zur Haupttür hinüberzuschauen. Sie konnte in dem Fenster in der Tür einen Teil eines Gesichts sehen, dann verschwand es. Das Schloss klackte, und die Tür wurde geöffnet.
Welor kam mit einem Tablett herein. Aber ich habe nicht mal Hunger …
»Ich wünsche Euch einen guten Abend, Lady Lilia«, sagte er, während er das Tablett auf den Esstisch stellte. »Euer Mahl – und ich habe noch etwas, das ich Euch versprochen habe.«
Er hatte sich zwei harte, rechteckige Gegenstände unter den Arm geklemmt und hielt sie ihr jetzt hin. Ihr Herz machte einen Satz, als sie erkannte, was es war. Bücher!
Bevor es ihr recht bewusst wurde, war sie auch schon auf den Beinen und eilte durch den Raum. Welor grinste, als sie ihm die Bücher abnahm.
»Sie stammen aus der Bibliothek der Wache«, erklärte Welor. »Vielleicht nicht so interessant wie Bücher über Magie, aber es stehen einige aufregende Geschichten darin.«
Sie las die Titel, und ihre Schultern sackten ein wenig herab. Schlachten der Vin-Flotte vor dem Bündnis stand in winzigen Lettern auf einem Buchdeckel, und Strategien für effektive Kontrolle von Menschenmengen während Prozessionen und anderer Ereignisse stand umgeben von einem kunstvoll verzierten Rahmen auf dem anderen. Sie blickte zu Welor auf, sah, dass er sie erwartungsvoll beobachtete, und hoffte, dass man ihr ihre Enttäuschung nicht anmerkte.
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Es ist alles, was ich in die Finger bekommen konnte«, erklärte er. »Bis ich einen freien Tag habe.«
»Es ist mehr, als ich jemals erwarten sollte«, erwiderte sie und senkte den Blick.
»Nun … wir sollen dafür sorgen, dass Ihr es bequem habt.« Er zuckte die Achseln. »Wenn Euch diese Bücher gefallen, kann ich weitere beschaffen. Oder vielleicht … meine Frau mag diese romantischen Abenteuer. Ich weiß nicht, ob sie nach Eurem Geschmack sind, aber ich bin mir sicher, sie würde Euch erlauben, sie auszuborgen.«
Lilia lächelte. »Ich könnte es ja einmal versuchen. Wenn sie sie für gut hält.«
Er grinste. »Sie mag sie sehr.« Er richtete sich ein wenig höher auf. »Nun, Ihr solltet besser essen, bevor es kalt wird.« Er machte eine flüchtige Verbeugung und verließ den Raum.
Da niemand da war, den sie kränken konnte, wenn sie während der Mahlzeit las, nahm Lilia beim Essen das erste Buch in Augenschein. Die Einführung war lang und trocken und das erste Kapitel nicht viel besser. Sie war sich nicht sicher, ob sie beeindruckt sein sollte, dass Welor ein solch schwieriges Buch gelesen und genossen hatte. Nicht alle Männer, die der Wache beitraten, konnten lesen, und jene aus den Klassen, die sich eine Ausbildung leisten konnten, sich dann aber mit einer Laufbahn in der Wache begnügten, taten das im Allgemeinen deshalb, weil sie nicht klug genug für besser bezahlte Arbeiten waren.