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Er sagte sich, dass sie es nicht wagen würden, ihn zu töten, aber er konnte nicht umhin, sich Sorgen zu machen, dass er sich irrte. Auf die Hinrichtung eines Verräters stand die Todesstrafe, aber Kalias Gruppe würde höchstwahrscheinlich einwenden, dass er nicht wirklich ein Verräter war. Vielleicht war einer der Beteiligten bereit, die Schuld auf sich zu nehmen und sich selbst zu opfern, damit das Sanktuarium sich seiner entledigen konnte.

Wenn er sich fragte, was sie sonst noch von ihm wollen mochten, ließ die Antwort sein Herz vor Furcht und Zorn schneller schlagen.

Ganz gleich was sie mit mir vorhaben, sie werden meine Gedanken lesen. Wenn sie das tun, werden sie alles ausforschen, was ich über das magische Heilen weiß.

Dies führte ihn zu der Frage, was er tun würde, wenn sie dieses Wissen im Gegenzug für sein Leben verlangten. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie das tun würden, da sie seine Mitarbeit prinzipiell nicht benötigten. Allerdings war die Kenntnis der Grundlagen der magischen Heilung, die man sich durch eine Gedankenlesung gewiss aneignen konnte, nicht unbedingt ein Ersatz für Erfahrung und Übung.

Wenn sie es tatsächlich tun … würde ich ihnen die Magie geben? Ist die Bewahrung dieses Wissen vor ihnen wichtiger als mein Leben?

Manchmal dachte er, dass es nicht so war. Es hatte ihm nie gefallen, Wissen zurückzuhalten, das diesen Menschen helfen konnte. Er konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen, dass sie zu skrupellosen Mitteln griffen, um es sich zu beschaffen.

Aber diese Entscheidung stand nicht ihm zu. Das Wissen gehörte der Gilde. Würde die Gilde von ihm erwarten, dass er starb, um dieses Recht zu schützen?

Muss ich mich wirklich der Autorität der Gilde beugen? Ich habe Dannyl gesagt, jeder solle so tun, als hätte ich die Gilde verlassen. Habe ich das wirklich ernst gemeint? Betrachte ich mich noch immer als einen Gildemagier?

Er bekam nicht die Gelegenheit, lange darüber nachzusinnen. Das Geräusch einer Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde, ließ seinen Puls von neuem rasen. Er hörte Schritte. Etwas an ihrem Rhythmus bescherte ihm ein flaues Gefühl im Magen, und Ärger regte sich in ihm. Er hätte diesen knappen, energischen Gang überall erkannt.

Kalia.

»Wo seid Ihr gewesen? Wir haben ihn stundenlang bewacht«, beklagte sich eine Frau. Eine der Wächterinnen, die ihn bewacht und geleert hatte, vermutete Lorkin.

»Ich bin nicht früher weggekommen. Man hat mich beobachtet«, erwiderte Kalia.

»Natürlich hat man das. Jemand anderer hätte das für dich übernehmen sollen«, sagte die zweite Wächterin mürrisch.

»Ich bin die Heilerin des Sanktuariums«, entgegnete Kalia schneidend. »Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unsere Leute die beste Behandlung bekommen.«

Darauf erwiderten die beiden Frauen nichts. Schritte kamen näher. Er hörte das Knacken von Gelenken. Seine Haut juckte unter der Augenbinde. Etwas Kühles, Lebendiges berührte seine Stirn.

Er zuckte instinktiv zurück und schüttelte die Hand ab. Dann wurde sein Kopf ergriffen und fest auf den Boden gedrückt. Die raue Oberfläche bohrte sich schmerzhaft in die Hinterseite seines Schädels. Die kühle Berührung kam zurück.

Er spürte eine andere Präsenz am Rande seines Geistes. Er spürte, wie sie mühelos in seinen Geist hineinschlüpfte. Obwohl es seine Kopfschmerzen verschlimmerte, versuchte er, gegen den Willen anzukämpfen, der nach seinen Erinnerungen griff. Aber es war nutzlos. Nichts hielt den gierigen Geist in seiner Suche und seinen Nachforschungen auf.

– Du wirst nicht damit durchkommen, sandte er dem Eindringling seine Botschaft. Wenn du Magie benutzt, um Menschen zu heilen, werden sie wissen, dass du das Wissen von mir gestohlen hast.

– Aber du hast es mir aus freien Stücken gegeben, erwiderte Kalia. Unmittelbar bevor du nach Hause zurückgekehrt bist. Ich werde ihnen natürlich erzählen, ich hätte versucht, es dir auszureden. Hätte gesagt, du solltest warten, so dass ich einen Führer für dich bereitstellen könne, damit du nicht erfrierst. Aber, ignoranter Kyralier, der du bist, warst du zu stolz, um das Angebot anzunehmen. Es wird dein eigener Fehler sein, dass du den Tod gefunden hast.

– Sie werden es nicht glauben.

– Natürlich nicht. Aber sie werden es akzeptieren müssen, da es keine Zeugen geben wird.

Lorkin spürte, wie Verzweiflung seine Selbstbeherrschung zu überwinden drohte. Er schob das Gefühl beiseite, und als Kalia abermals in seine Erinnerungen eintauchte und die Kenntnis der magischen Heilung an die Oberfläche rief, versuchte er, sie mit anderen Gedanken abzulenken. Sie ignorierte sie, zu erpicht darauf zu lernen, was er wusste. Erst als ihre Neugier befriedigt war, schweifte ihre Aufmerksamkeit ab. Und als das geschah, entlockte sie seinem Geist Erinnerungen und Tatsachen, von denen er nicht wollte, dass sie sie sah.

Der Geist war ein Verräter und brauchte nicht viel Überredung. Normalerweise wäre Lorkin imstande gewesen, diese Erinnerungen in seinem Geist hinter eingebildeten Türen zu halten, außer Sicht. Normalerweise würde der Magier, der in seinen Geist eintrat, diese Türen höflich ignorieren. Aber nicht Kalia.

Sie jagte hinter Erinnerungen an seine Kindheit in der Gilde her, amüsiert, als sie sah, wie man ihn wegen der niederen Herkunft seiner Mutter und ihres nicht vorhandenen Ehemanns verspottet hatte; hämisch zu erfahren, wie seine erste Liebe, Beriya, ihm das Herz gebrochen hatte; geringschätzig angesichts der Erwartungen, dass er etwas Heldenhaftes tun würde wie sein Vater; und verächtlich, als sie auf seine Zuneigung zu Tyvara stieß …

Ein Geräusch durchbrach Kalias Konzentration. Lorkins Ohren sagten ihm, dass es laut war, aber da seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen Geist gerichtet war, spürte er es nicht. Dann kehrte sein Bewusstsein ruckartig in die äußere Welt zurück. Ihm schwirrte der Kopf.

»Was?«, blaffte Kalia.

»Man ist dir gefolgt. Wir haben die Verfolger abgelenkt, aber wir haben nicht lange Zeit, bis sie es bemerken.«

Stille trat ein. Lorkin konnte Kalia atmen hören.

»Ist es vollbracht?«, fragte eine der Wächterinnen.

»Vielleicht«, erwiderte Kalia in einem spekulativen Tonfall, bei dem ihn ein kalter Schauer überlief. »Zieht ihn hoch. Ich kenne das perfekte Versteck für ihn.«

Lorkin, dem noch immer der Kopf schwirrte, wenn auch eher aufgrund des Mangels an Nahrung und Wasser, spürte, wie jemand ihn auf die Füße riss und dann in einen engen Gang schob.

17

Gedankenspiele

Der Schnee, der in der Nacht zuvor gefallen war, türmte sich in Verwehungen zu beiden Seiten der Straße auf. Er hielt sich dort im Schatten der Bäume, wohin das Sonnenlicht noch nicht gedrungen war. Sonea beugte sich dichter ans Fenster heran, um zum Ausguck hinaufzuschauen, und fragte sich, ob das Gebäude wohl kälter war als die Häuser in der Stadt. Etwas zog ihren Blick zu der dritten Reihe von Fenstern.

Schaut da jemand heraus? Sie runzelte die Stirn, und als sie genauer hinsah, erkannte sie in einem der Fenster das Gesicht einer jungen Frau. Lilia.

Das Mädchen beobachtete die Kutsche. Es schien, als träfen sich ihre Blicke, obwohl Sonea zu weit entfernt war, um zu erkennen, ob sie es sich nur einbildete oder nicht. Dann folgte die Kutsche einer Biegung der Straße, und sie verloren einander aus den Augen.

Zehn Jahre sind eine lange Zeit, schoss es Sonea durch den Kopf. Aber zumindest lebt sie und ist in Sicherheit.

Ihre Gedanken wanderten zu Naki. Das Mädchen war seit einer Woche verschwunden. Ihre Diener hatten ihre Abwesenheit erst gemeldet, als Naki länger als gewöhnlich ausgeblieben war. Anscheinend war sie gelegentlich ohne Erklärung für einige Tage verschwunden. Sämtliche Diener des Haushalts waren von Magiern befragt worden, und man war ihren Vermutungen, was den möglichen Aufenthaltsort des Mädchens betraf, nachgegangen, aber diese Vermutungen hatten sich bei den Nachforschungen stets als falsch erwiesen. Die Gilde hatte sich mit Verwandten in Verbindung gesetzt, aber niemand hatte von dem Mädchen gehört.