Ein Geräusch aus dem benachbarten Zimmer lenkte ihren Blick auf die Nebentür. Sie hatte gelauscht, als Sonea mit Lorandra gesprochen hatte. Es war ein seltsames Gespräch gewesen, größtenteils einseitig, da Lorandra nicht geneigt war, Soneas Fragen zu beantworten, und wenn sie doch gesprochen hatte, hatte sie häufig vollkommen das Thema gewechselt. Obwohl beide nichts gesagt hatten, was als unhöflich oder bedrohlich gelten konnte, vermittelte die ganze Begegnung Lilia einen Eindruck von Feindseligkeit. Lorandra wollte nicht mit der Gilde zusammenarbeiten. Es überraschte Lilia nicht, als Sonea aufgab und ging.
Jetzt, da es nichts mehr zu lauschen gab, wanderte sie wieder rastlos in ihrem Zimmer herum. Ein Klopfen an der Tür ließ Lilia zusammenzucken.
»Seid Ihr jetzt mit Eurem endlosen Auf und Ab fertig?«, fragte eine gedämpfte Stimme.
Lilia lächelte schief. Wenn sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, die andere Frau zu belauschen, dann war es keine Überraschung, dass Lorandra ihrerseits das Gleiche tat.
»Für den Augenblick«, sagte sie und ging zur Tür hinüber.
»Ihr habt schlechte Nachrichten erhalten?«
»Ja. Meine Freundin ist verschwunden.« Lilia hatte Lorandra zwar von Naki erzählt, sie dabei aber immer nur als enge Freundin beschrieben.
»Wisst Ihr, wo sie ist?«
»Nein.« Lorandra muss gehört haben, wie ich das sagte … aber ich nehme an, sie hat nicht wissen können, ob ich gelogen habe.
»Ich wette, Ihr wünscht, Ihr könntet in die Stadt gehen und nach ihr suchen.«
»Das tue ich. Sehr sogar.« Lilia seufzte. »Aber selbst wenn ich nicht hier eingesperrt wäre, wüsste ich nicht, wo ich nachsehen sollte.«
»Was haltet Ihr für wahrscheinlicher – dass sie gegen ihren Willen fortgebracht wurde oder dass sie sich versteckt?«
Lilia überlegte. »Warum sollte sie sich verstecken? Wenn sie schwarze Magie erlernt hätte, würde das Sinn ergeben, aber Schwarzmagierin Sonea hätte es in ihrem Geist gesehen. Also ist es wahrscheinlicher, dass man sie gegen ihren Willen …« Lilia konnte den Satz nicht beenden. Sie schauderte. Und doch fühlte sie sich ein klein wenig besser. Dies war zumindest eine Antwort. Selbst wenn es keine gute war.
»Wer sollte das tun wollen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was hat sie, das andere haben wollen könnten?«
»Geld. Sie hat das Vermögen ihres Vaters geerbt, als dieser starb.« Lilias Herz verkrampfte sich. »Vielleicht hat sie herausgefunden, wer ihn getötet hat!«
»Wenn es so ist, ist sie wahrscheinlich tot.«
Lilia schluckte schwer. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
»Was ist, wenn sie nicht tot ist?«, fragte Lilia. »Was ist, wenn sie gefangen gehalten wird? Was, wenn sie erpresst wird?« Was, wenn jemand versucht, sie dazu zu zwingen, ihm von den Anweisungen in dem Buch über schwarze Magie zu erzählen?
Lorandra schwieg mehrere Atemzüge lang. »Ich nehme an, Ihr werdet es nicht erfahren, es sei denn, die Gilde findet es heraus und macht sich die Mühe, es Euch zu erzählen. Denkt Ihr, dass man das tun wird?«
Lilias Schultern sanken herab. »Ich weiß es nicht.«
»Es klang so, als hätte Sonea ihre Zweifel.«
»Wirklich?« Lilia dachte zurück. Sie konnte sich nicht erinnern. Der Schreck und die Sorge um Naki hatten ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht.
»Ja.« Lorandra klopfte leise an die Tür, als trommele sie nachdenklich mit den Fingern. »Früher wäre ich in der Lage gewesen, es für Euch herauszufinden. Ich habe Beziehungen in der Stadt. Viele, viele Beziehungen. Die meisten sind nicht besonders respektabel, aber das ist zum Teil der Grund, warum ich hier bin. Wenn ich frei wäre, würde ich Euch helfen, Eure Freundin zu finden, oder in Erfahrung bringen, was mit ihr geschehen ist.«
Lilia lächelte, obwohl sie wusste, dass die Frau es nicht sehen konnte. »Danke. Es ist schön zu wissen, dass Ihr das tun würdet, wenn Ihr dazu in der Lage wärt.« Wie seltsam, dass diese Frau, die die Gilde für eine Verbrecherin hält, besser als jeder andere versteht, was ich durchmache. Nun, es heißt wohl nicht umsonst, dass für die Diebe und die ganze Unterwelt Loyalität sehr wichtig ist.
»Man hat Eure Kräfte blockiert, bevor man Euch hierherbrachte, nicht wahr?«
»Natürlich.« Lilia runzelte angesichts des Themenwechsels die Stirn.
»Habt Ihr je versucht, die Blockade zu durchbrechen oder an ihr vorbeizukommen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich … warum sollte ich mir die Mühe machen? Schwarzmagierin Sonea hat meine Kräfte blockiert. Ich werde ihre Blockade wohl kaum durchbrechen können. Ich würde bei dem Versuch nur Kopfschmerzen bekommen.«
»Also … es macht einen Unterschied, wie stark der Magier ist, der eine Blockade einrichtet? Oder ob es sich bei diesem Magier um einen Schwarzmagier handelt?«
Lilia schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass die Blockade den eigenen Willen von der Macht des Betreffenden trennt, also spielt es keine Rolle, wie stark man ist.«
»Eine Blockade kann jedoch nicht alle Kontrolle abtrennen. Anderenfalls wären wir tot.«
»Natürlich.«
»Wie machen sie das?«
»Ich weiß es nicht.« Lilia seufzte. Sie hatte heute ziemlich oft »Ich weiß es nicht« gesagt.
»Mir scheint, dass Schwarzmagier nicht nur stärker sind als gewöhnliche Magier, sondern auch über eine andere Art von Magie gebieten. Eine andere Art, ihre Magie zu kontrollieren.«
»Sie sind nicht stärker, es sei denn, sie nehmen Macht von anderen Leuten«, korrigierte Lilia sie. »Obwohl sie beide stärker waren als die meisten anderen Magier, bevor sie schwarze Magie erlernten. Es ist Sonea und Kallen nicht gestattet, ohne Erlaubnis Macht zu nehmen, und man würde sie ihnen nur geben, wenn das Land angegriffen würde oder einer anderen Bedrohung gegenüberstünde.«
»Wirklich? Dann habe ich recht. Es ist eine andere Art von Magie.«
Lorandras Tonfall war der eines Menschen, der gerade etwas erfahren hatte und sehr zufrieden damit war. Wenn sie das nicht wusste … hätte ich es ihr erzählen sollen? Sie hat recht – ich habe die schwarze Magie nicht erlernt, indem ich Macht genommen habe, sondern indem ich eine andere Weise, meine Macht zu spüren, ausprobiert habe.
»Also sind ihre Kräfte von anderer Art«, bemerkte Lorandra. »Sie können Dinge tun, die andere Magier nicht tun können. Wie Gedankenlesen. Sie können die Schutzwälle eines anderen umgehen, im Gegensatz zu gewöhnlichen Magiern.«
»Ja.« So viel war offensichtlich.
Lorandra hielt abermals inne, aber nicht so lange wie zuvor. »Ich habe folgende Idee: Wenn Ihr mit Eurem Geist andere Dinge tun könnt, sollte das bedeuten, dass jedwede Blockade in Eurem Geist ebenfalls von anderer Art sein müsste. Hat Sonea Euren Geist auf die gewöhnliche Art blockiert? Nein, antwortet mir nicht«, fügte sie hinzu. »Ich denke nur laut. Aber beantwortet dies, wenn Ihr könnt: Hat schon zuvor jemand die Kräfte eines Schwarzmagiers blockiert?«
»Nicht dass ich wüsste. In den Geschichtslektionen wird das nicht erwähnt.«
»Ich denke, Ihr solltet versuchen, an der Blockade vorbeizukommen. Wenn noch nie jemand die Kräfte eines Schwarzmagiers blockiert hat und Schwarzmagier normale Hindernisse überwinden können, woher wollen sie dann wissen, ob sie es richtig hinbekommen haben?«
Lilia starrte auf die Tür. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Sie wollte einwenden, dass Sonea die Blockade einfach neu einrichten könnte. Falls sie herausfände, dass sie verschwunden ist. Solange ich niemals Magie benutze, wenn jemand hier ist, würde niemand davon erfahren. Aber sie ignorierte die augenfällige Konsequenz eines Erfolgs: Lorandra würde sich nicht damit zufriedengeben, im Ausguck zu bleiben. Sie will, dass ich uns hier herausbringe.