Normalerweise hätte Lilia abgelehnt. Normalerweise wäre sie geblieben, wo sie war, wohl wissend, dass Sonea und Kallen Jagd auf sie machen und sie finden würden und dass die Strafe für eine Flucht schlimmer sein würde als bloße Einkerkerung.
Sie würden mich wahrscheinlich hinrichten.
Aber wenn sie Naki fand, war es das vielleicht wert. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie die Stadt nicht gut genug kannte, um Naki zu finden, bevor die Gilde sie einfing, aber hier war eine Frau, die die Stadt sehr gut kannte. Die die Unterwelt kannte, wo Naki höchstwahrscheinlich gefangen war. Eine Frau, die Lilia helfen wollte.
Mehr als alles andere auf der Welt wollte Lilia Naki finden. Aber was wollte Lorandra?
Nun, sie will mir helfen, wenn ich sie im Gegenzug aus diesem Gefängnis befreie, dachte Lilia. Ich sollte sie dazu bringen, einigen Bedingungen zuzustimmen.
»Was denkt Ihr, wie lange es dauern wird, Naki zu finden?«
Lorandra kicherte. »Ihr seid ziemlich schnell, Lady Lilia. Ich kann Euch das nicht genau sagen. Ich werde meine Leute aufspüren müssen, und wenn sie es nicht bereits wissen, würden sie einige Zeit darauf verwenden müssen, es herauszufinden.«
»Denkt Ihr, wir könnten uns jede Nacht davonstehlen und am Morgen zurückkehren, ohne dass die Wachen es bemerken?« Das würde uns mehr Zeit verschaffen als die Alternative: wenn wir verschwänden und die Gilde anfangen würde, Jagd auf uns zu machen. Wir könnten wochenlang nach Naki suchen, wenn es nötig wäre. Und wenn sie dann entdecken, dass wir uns davongeschlichen haben, werden sie mir vielleicht verzeihen, weil wir jedes Mal zurückgekehrt sind. Wir könnten Naki sogar finden, ohne dass die Gilde davon erfährt, dass wir den Ausguck jemals verlassen haben.
»Wahrscheinlich.« Lorandras Tonfall war schwer zu deuten. »Es hängt davon ab, ob wir hier hinaus- und wieder hereinkommen können, ohne dass jemand es bemerkt. Wenn ich Zugang zu meinen Kräften hätte, könnte ich schweben.«
»Ich kann das tun«, sagte Lilia schnell. Sie wollte sich nicht dazu überreden lassen, die Blockade von Lorandras Kräften zu entfernen. Es war schlimm genug, die Frau auf freien Fuß zu setzen, aber eine ganz andere Sache war es, sie auf die Stadt loszulassen, wenn sie die volle Kontrolle über ihre Kräfte hatte. »Also … wenn ich uns hier herausbringe, versprecht Ihr mir dann, mir bei der Suche nach Naki zu helfen?«
»Ja.«
»Und wir werden versuchen, uns davonzustehlen und zurückzukehren, ohne dass irgendjemand es bemerkt?«
»Ja.«
»Dann werde ich es tun. Falls ich die Blockade entfernen kann.«
»Wenn Ihr schwarze Magie schon beim ersten Versuch erlernt habt, wird es bei der Blockade vermutlich das Gleiche sein. Entweder schafft Ihr es sofort oder gar nicht.«
»Das hoffe ich. Während ich es versuche, denkt Ihr darüber nach, wie wir hier herauskommen.«
»Das mache ich. Viel Glück.«
Lilia trat von der Tür weg. Sie schaute sich um, dann ging sie zu dem Stuhl am Fenster und setzte sich. Nachdem sie die Augen geschlossen hatte, begann sie mit einer Atemübung, um ihren Geist zu beruhigen und zu konzentrieren.
Als sie sich bereit fühlte, sandte sie ihre Aufmerksamkeit nach innen. Sofort nahm sie die Blockade wahr. Wann immer sie das bisher getan hatte, hatte sie unverzüglich den Ball aus Energie in sich entdeckt. Jetzt war etwas im Weg. Es war wie ein magischer Schild oder eine Barriere und doch wieder ganz anders.
Sie stieß sanft dagegen. Die Blockade widersetzte sich. Sie versuchte es nachdrücklicher, aber es war wie eine harte, kalte Mauer. Ich muss mir mehr Mühe geben. Es wird wehtun. Darauf muss ich gefasst sein. Sie versuchte, sich gegen den Schmerz zu wappnen, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das tun sollte. Es war nicht so, als hätte ihr Geist Muskeln, die sie anspannen konnte.
Sie nahm ihre ganze Entschlossenheit zusammen und warf ihre Willenskraft gegen die Mauer. Sofort explodierte ein scharfer Schmerz in ihrem Geist. Sie keuchte auf, öffnete die Augen und hielt sich den Kopf, der jetzt schlimmer wehtat als bei jedem Kopfschmerz, den sie je zuvor erlitten hatte.
Oh. Das war unangenehm. Sie wiegte sich hin und her, konzentrierte sich auf ihre Atmung und wartete ab, während der Schmerz langsam verebbte. Dann schloss sie erneut die Augen und betrachtete die Blockade. Ein mächtiges Widerstreben überkam sie, ihre Sinne noch einmal auch nur in die Nähe dieser Mauer auszustrecken.
Ich liebe Naki. Ich muss ihr helfen. Ich muss einen Weg finden.
Sie sondierte die Blockade. Wie stark ist sie? Sie vermittelte kein Gefühl von Stärke. Sie war einfach da.
Sie dachte über Lorandras Worte nach, dass schwarze Magie eine andere Art von Magie sei. Und sie erinnerte sich an die Anweisungen in dem Buch.
»Im frühen Stadium der Ausbildung lehrt man einen Novizen, sich seine Magie als ein Gefäß vorzustellen – vielleicht eine Schachtel oder eine Flasche. Während er mehr lernt, begreift er, was seine Sinne ihm sagen: Dass sein Körper das Gefäß ist und dass die natürliche Barriere der Magie an der Haut seine Macht im Inneren festhält.«
Mein Körper ist das Gefäß, sagte sie sich und suchte dann nach diesem sich ausdehnenden Bewusstsein, das sie schon früher kennengelernt hatte. Es kam sofort, und eine Woge der Erregung schlug über ihr zusammen. Sie suchte nach der Blockade. Sie war immer noch da.
Aber jetzt war sie bedeutungslos. Die Blockade beschützte den Ort, an dem man sie nach Magie zu suchen gelehrt hatte, aber ihr ganzer Körper war voller Magie. Sie konnte sie von überall anzapfen …
Lilia öffnete die Augen. Sie griff nach Magie und spürte, wie die Magie reagierte. Sie kanalisierte sie nach außen und benutzte sie, um Welors Bücher vom Tisch zu heben. Ein Gefühl des Triumphs durchfuhr sie.
Ich habe es geschafft!
Sie sprang vom Stuhl und eilte zur Tür.
»Ich habe es geschafft!«, rief sie aus. »Ihr hattet recht!«
»Gut gemacht. Jetzt geht von der Tür weg und seid leise«, flüsterte Lorandra. »Ich kann jemanden kommen hören.«
Lilias Herz setzte einen Schlag aus. Sie wich von der Tür zurück und lauschte. Und tatsächlich, das schwache Geräusch der Schritte einer einzelnen Person war zu vernehmen.
»Abendessen«, sagte sie. »Ich werde später mit Euch reden.«
»Braves Mädchen.«
Lilia wandte sich von der Tür ab, ging zu dem kleinen Tisch, an dem sie aß, und wartete darauf, dass Welor eintrat, im einen Augenblick voller Jubel über ihre Leistung, während sie im nächsten die Schuldgefühle wegen der Dinge, die sie zu tun beabsichtigte, von sich schob.
Ich tue es für Naki, sagte sie sich. Es spielt keine Rolle, was anschließend mit mir geschieht, Hauptsache, sie ist in Sicherheit.
Lorkin hatte das Gefühl, dass er schon tagelang darauf wartete, dass jemand ihn tötete – immer in der Ungewissheit, ob er noch Minuten oder Stunden zu leben hatte. Obwohl er die Panik, die ihn ständig zu überwältigen drohte, erfolgreich niederkämpfte, verebbte die Übelkeit keinen Moment lang. Wann immer das Brennen eines Schnitts auf seiner Haut ankündigte, dass jemand seine wiedererwachenden Kräfte anzapfen würde, fragte er sich, ob er diesmal nicht nur erschöpft, sondern bewusstlos zurückbleiben würde. Jedes Mal, wenn die Prozedur endete, verspürte er eine bittere Erleichterung.
Ich bezweifle, dass die Wachen diejenigen sein werden, die mir den Rest geben, überlegte er. Das wird Kalia selbst übernehmen wollen.
Oder vielleicht nicht? Es war wahrscheinlich sicherer, wenn eine geringere Magierin ihn erledigte. Dann konnte sie argumentieren, dass nicht sie diejenige gewesen sei, die ihn ermordet hatte, falls man seinen Tod verdächtig fand. Wenn man jedoch ihre Gedanken las, konnte er sich nicht vorstellen, wie sie die Tatsache verbergen wollte, dass sie den Befehl zu seiner Ermordung gegeben hatte.