Выбрать главу

Die Höheren Magier hatten ihre gewohnten Plätze eingenommen. Wie immer bedeutete das, dass sie und Kallen zu beiden Seiten von Osens Schreibtisch standen. Alle warteten still und mit grimmiger Miene.

Die Tür des Büros wurde geöffnet, und alle Anwesenden beobachteten, wie Hauptmann Sotin und ein junger Wachposten den Raum betraten, in Begleitung des Kriegers, der in der vergangenen Nacht Dienst im Ausguck gehabt hatte. Alle drei wurden unter der Musterung der Höheren Magier ein wenig bleich. Das Trio ging auf Osens Schreibtisch zu und blieb dann stehen, offenkundig unsicher, ob sie sich an den Administrator oder die übrigen Magier wenden sollten.

Der Hauptmann entschied sich dafür, sich vor Osen zu verneigen, und der Wachposten folgte hastig seinem Beispiel.

»Administrator«, sagte der Hauptmann forsch.

»Hauptmann Sotin«, erwiderte Osen. »Danke, dass Ihr hierhergekommen seid. Und das ist?« Osen blickte zu dem Wachposten auf.

»Wachmann Welor, Administrator. Er war dafür verantwortlich, sich um Lady Lilias Bedürfnisse zu kümmern. Er war gestern Nacht nicht im Dienst, ist – war – aber der einzige Wachmann, der regelmäßig Kontakt zu ihr hatte.«

Osen nickte und deutete zu den übrigen Magiern. »Erzählt uns, was Ihr wisst, Hauptmann.«

Der Mann wandte sich an die übrigen Anwesenden im Raum. »Die Männer, die Dienst hatten, berichten, dass niemandem etwas aufgefallen sei, und alle schwören, dass keiner von ihnen eingeschlafen sei, getrunken habe oder auf andere Weise von seiner Pflicht abgelenkt worden sei. Es gab keine Geräusche von den Gefangenen oder von außerhalb des Turms. Aber irgendwann wurde die Tür zu Lady Lilias Zimmer geöffnet, ebenso wie die Innentür zwischen den Räumen von Lady Lilia und Lorandra.«

»Was denkt Ihr, wie sie geöffnet wurden?«, fragte der Hohe Lord Balkan.

»Das kann ich nicht sagen. Es gab keine Spuren von Gewalt. Die Schlüssel fehlen nicht. Also wurden sie entweder mit einem Dietrich oder mithilfe von Magie geöffnet.« Der Hauptmann verzog das Gesicht. »Wir hatten ein zweites Schloss an Lorandras Tür, außer Reichweite, so dass man es nicht öffnen konnte, aber an der inneren Tür hatten wir kein zusätzliches Schloss.«

»Und die Haupttür zu Lilias Zimmer?«

Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Wir hatten diese Tür früher auch mit zwei Schlössern versperrt. Sobald sie dort war … Nun, wir haben vermutet, dass sie nicht wissen würde, wie man Schlösser aufbricht.«

»Da keine der beiden Frauen Magie benutzen kann, müssen wir davon ausgehen, dass Lorandra sowohl die innere Tür als auch die Haupttür zu Lilias Zimmer geöffnet hat«, sagte Lady Vinara. »Sobald sie ihre Zimmer verlassen hatten, wie sind sie aus dem Turm gekommen?«

»Sie können nicht über die Treppe zum Erdgeschoss geflohen sein, da sie beim Büro endet und sich dort immer Männer befinden«, erwiderte der Hauptmann. »Wir denken, sie sind übers Dach geflohen. Wir hatten dort oben keine Wachen, aber die Luke zum Dach war auf der Innenseite verschlossen und mit Magie blockiert …« Er sah den Krieger an, der Dienst gehabt hatte.

»Beides war unversehrt«, murmelte der junge Mann.

»Aber wir haben entdeckt, dass die alte Observatoriumskuppel sich gelöst hatte und weit genug nach oben gestemmt werden konnte, um eine Person von schmalem Körperbau hinauskriechen zu lassen«, erklärte der Hauptmann.

»Sie ist aus Glas und sehr schwer«, bemerkte Lord Peakin kopfschüttelnd. »Ich bezweifle, dass Lady Lilia und die alte Frau in der Lage gewesen wären, sie anzuheben, selbst mit vereinten Kräften.«

»So muss es aber gewesen sein«, sagte Vinara.

»Wie sind sie dann vom Dach heruntergekommen?«, fragte Lord Garrel. »Gibt es irgendwelche Spuren, die auf die Benutzung von Seilen oder Leitern hindeuten?«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf.

»Ihr seid Euch sicher, dass Eure Männer die Wahrheit sagen?«, fragte Lady Vinara den Hauptmann.

Der Mann richtete sich auf und nickte. »Ich vertraue ihnen allen. Es sind ehrliche Männer.« Er hielt inne. »Und wenn sie es nicht wären und den Gefangenen die Flucht ermöglicht hätten, hätten sie gewiss eine Geschichte erfunden, dass man sie mit Drogen betäubt habe, oder irgendeine andere Ausrede parat gehabt. Sie sind verwirrt und beschämt, und ich musste einigen von ihnen ausreden, den Dienst zu quittieren.«

Der Wachposten neben ihm senkte den Kopf.

»Wachmann Welor«, sagte Osen. »Ist Euch irgendetwas an Lady Lilias Verhalten aufgefallen, das darauf hinweisen könnte, dass sie möglicherweise eine Flucht geplant hat?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie schon Zeit hatte, darüber nachzudenken. Sie war immer noch damit beschäftigt zu begreifen, was ihr zugestoßen war. Ich habe heute Morgen diesen Brief gefunden.« Er zog ein Stück Papier aus seiner Brusttasche, entfaltete es und reichte es Osen. »Er lag in einem Buch, das ich ihr gegeben habe, also denke ich, sie wollte, dass ich das Schreiben finde.«

Der Administrator las die Notiz und zog die Augenbrauen hoch.

»Muss Naki finden. Werde morgen früh wieder zurück sein«, las er laut.

»Sie ist nicht zurückgekommen«, sagte Vinara. »Entweder sie hat gelogen, oder sie wurde an einer Rückkehr gehindert.«

»Warum sollte sie lügen?«, fragte Peakin.

»Vielleicht dachte sie, das würde ihr mehr Zeit verschaffen«, erwiderte Garrel. »Wenn wir ihr Verschwinden in der vergangenen Nacht entdeckt hätten, hätten wir vielleicht abgewartet, ob sie zurückkommen würde.«

»Aber wie sind sie vom Dach heruntergekommen?«, warf Osen ein. »Wie weit ist es bis zum Boden – oder bis zu den nächsten Bäumen?«

»Wenn sie hinuntergeklettert wären, hätten die Wachen unten sie bemerkt. Die Bäume befinden sich erheblich weiter unten am Hang und sind daher niedriger als der Turm«, sagte der Hauptmann. »Ein Seil hätte sehr straff gespannt sein müssen, und dann wären sie eher daran heruntergerutscht als geklettert. Dann wäre da noch das Problem gewesen, überhaupt ein Ende des Seils auf den Turm zu bekommen, ohne dass jemand es bemerkt.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben immer erwartet, dass Skellin, sollte er versuchen, seine Mutter über das Dach zu retten, dort hinaufschweben würde.«

»Ich möchte wetten, dass er das getan hat, und niemand hat es bemerkt«, sagte Vinara. »Aber warum sollte er Lilia mitnehmen …?« Entsetztes Begreifen zeichnete sich auf ihren Zügen ab. »Oh.«

Es wurde sehr still im Raum. Sonea sah Kallen an und fragte sich, ob er bereits bedacht hatte, was Vinara gerade klar geworden war. Seine Miene zeigte erzwungene Geduld. Ja, er ist sich der Gefahr durchaus bewusst – und er brennt darauf, etwas zu unternehmen. Sie widerstand der Versuchung zu lächeln, da sie wusste, dass es falsch verstanden werden würde.

»Warum hat man die beiden eigentlich in benachbarten Räumen untergebracht?«, fragte Garrel plötzlich. »Eine gerissene wilde Magierin und eine leicht zu manipulierende junge Frau. Gewiss war eine Katastrophe zu erwarten. Lilia könnte Lorandra erklärt haben, wie man schwarze Magie benutzt, auch ohne dass die beiden dazu ihre Räume hätten verlassen müssen.«

Einige der Höheren Magier sahen den Hauptmann an. Garrel und ein paar andere schauten zu Sonea und Kallen hinüber. Sonea sah Rothen an, der ihrem Blick mit wissender Miene begegnete. Er hatte sie gewarnt, dass man ihr mühelos die Schuld an Lilias Flucht geben könnte, da sie Lorandra und Lilia besucht und keine Schwachstellen in ihren Kerkern entdeckt hatte.

»Man hat uns aufgetragen, dafür zu sorgen, dass sie gut behandelt werden«, sagte der Hauptmann. »Wir dachten, da beide Gefangene Frauen waren, könnten sie einander Gesellschaft leisten. Ich … ich sehe jetzt, dass das ein Fehler war.«

Soneas Herz flog dem Mann entgegen. Es war gewiss nicht allein seine Schuld, dass die beiden entkommen waren. Sie runzelte die Stirn. Versucht er, die Schuld auf sich zu nehmen, um seine Männer zu retten?