Sie schlüpfte aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich. Lorkin stand auf, entdeckte in einer Nische eine große Schale mit Wasser und einen Waschlappen und benutzte beides. Seine Entführer hatten ihm einen Eimer gegeben, aber keine Anstalten gemacht, ihm dabei zu helfen, sich zu erleichtern, was mit verbundenen Augen und hinter dem Rücken gefesselten Händen schwierig gewesen war. Es überraschte ihn nicht, dass er stank.
Er hatte unmittelbar nach seiner Rettung und Einnahme einer kleinen Mahlzeit nur noch genug Energie gehabt, um seine Kleider abzuschälen und ins Bett zu fallen, bevor er eingeschlafen war. Jetzt blickte er sich um und fragte sich, wo er war. Der Raum war klein, und abgesehen vom Bett stellten zwei Stühle die einzigen weiteren Möbelstücke dar.
Sobald er angekleidet war, öffnete er die Tür des Raums und blinzelte überrascht. Sie führte in einen Flur, der voller Menschen war. Tyvara stand neben der Tür und hakte ihn unter, als er hinaustrat.
»Du kommst genau zur richtigen Zeit«, bemerkte sie und führte ihn nach rechts. Die Menschen im Flur schauten ihm nach. Einige wirkten freundlich, andere feindselig. Seine Entführung durch Kalia war mehr als ein bloßer Skandal, und mitten im Winter, da die meisten den größten Teil der Zeit drinnen verbrachten, würde das Geschehen mehr Aufsehen erregen, als es das vielleicht in den Sommermonaten getan hätte.
Es hat die Verräterinnen wahrscheinlich noch weiter gespalten, überlegte er. Ich hoffe, das führt nicht zu noch schlimmeren Problemen für sie, was erneut etwas wäre, wofür sie mir die Verantwortung zuschieben könnten.
Es dauerte nicht lange, bis er und Tyvara den Eingang zur Halle der Sprecherinnen erreichten. Sie gingen hindurch, und sofort zog eine Magierin sie heran und bat sie, sich an die Wand auf einer Seite des unteren Bereichs zu stellen. Sobald er seine Position eingenommen hatte, schaute Lorkin sich im Raum um.
Alle Sprecherinnen saßen auf ihren Plätzen, bis auf Kalia, die an der Tyvara und Lorkin gegenüberliegenden Seite des Raums stand, flankiert von zwei Magierinnen. Der Rest des Raums war voller Menschen, die alle standen und deren Stimmen zu einer lärmenden Geräuschkulisse verschwammen.
Eine Glocke ertönte. Köpfe wurden gedreht, und die Stimmen verstummten. Lorkin sah, dass die Vorsitzende Riaya eine Glocke in der Hand hielt, die viel kleiner war, als sie es normalerweise hätte sein müssen, um das Geräusch hervorzubringen. Jene Zuschauer, die auf den gestuften Zuschauerrängen standen, begannen sich zu setzen, während die Übrigen sich an die Wände zurückzogen. Als fast alle Platz genommen hatten, betrat eine weitere Person den Raum. Beinahe sofort senkte sich absolute Stille herab, die letzten noch stehenden Zuschauer setzten sich hastig, und die Sprecherinnen erhoben sich von ihren Plätzen, um die Königin zu begrüßen, die steif zu ihrem Stuhl ging.
Bevor sie sich setzte, wandte Zarala sich ihrem Volk zu. Alle Anwesenden legten die Hände aufs Herz. Lorkin folgte ihrem Beispiel. Die Königin nickte zuerst den Zuschauern zu, dann den Sprecherinnen, dann nahm sie Platz. Die Sprecherinnen setzten sich ebenfalls.
»Wir beginnen mit der Verhandlung von Sprecherin Kalia, die angeklagt ist, einen Verräter entführt und mit Gewalt seine Gedanken gelesen zu haben. Ich rufe Lorkin auf.«
Aller Augen wandten sich Lorkin zu, als er vortrat und vor den Sprecherinnen stehen blieb.
»Erzähl uns, was dir widerfahren ist.«
Lorkin erzählte seine Geschichte von dem Moment an, als man ihn in der Dunkelheit angesprungen hatte. Er beschrieb, wie er erwacht war und festgestellt hatte, dass er gefesselt war, eine Augenbinde trug und außerstande war, mittels Gedankenrede um Hilfe zu rufen. Dann streckte er die Arme aus, um die Schnittwunden zu zeigen – Tyvara hatte ihm gesagt, er solle sie nicht heilen –, und erklärte, dass seine Entführer ihn schwach gehalten hätten, indem sie ihm regelmäßig Macht abzapften.
Er schob seinen Widerwillen beiseite, um zu beschreiben, wie Kalia seine Gedanken gelesen und ihm das Wissen über die Heilung mittels Magie entzogen hatte, während sie außerdem in seinen Erinnerungen nach allem gesucht hatte, was man vielleicht gegen ihn verwenden könnte. Dies entlockte dem Publikum ein Raunen. Als Nächstes berichtete er ihnen von Kalias Absicht, ihn zu töten und zu behaupten, er habe das Sanktuarium verlassen. Daraufhin senkte sich seltsamerweise Schweigen über den Raum. Er sah Erschrecken auf vielen Gesichtern, aber Ungläubigkeit auf anderen. Am Ende erzählte er, wie Tyvara und Savara sie gefunden hatten.
»Du hast weder deine Erlaubnis gegeben noch angedeutet, dass du damit einverstanden bist, dass jemand Magie von dir nimmt oder deine Gedanken liest?«
»Nein.«
»Hat man dir zu essen und zu trinken gegeben?«
»Nein.«
»Wie viele Magierinnen haben über dich gewacht und dich geleert?«
»Ich weiß es nicht. Zwei waren immer da, aber ich weiß nicht, ob es immer dieselben waren. Sie müssen in Schichten gearbeitet haben, da die Entleerungen auch in den Nächten fortdauerten.«
Riaya warf den Sprecherinnen einen vielsagenden Blick zu, dann wandte sie sich wieder zu ihm um. »Wirst du dich bereit erklären, einer Magierin zu erlauben, deine Gedanken zu lesen, um deine Geschichte zu beweisen?«
Er dachte über die Frage nach. Obwohl ihm bei der Vorstellung, eine weitere Person könne in seinen Erinnerungen stöbern, ein Schauer über den Rücken lief, wollte er lieber das ertragen, als zu riskieren, dass Kalia vielleicht auf freiem Fuß blieb und für ihre Verbrechen nicht bestraft wurde. Jede Verräterin, die er in seinen Geist ließ, war eine weitere, die Kenntnis der magischen Heilung gewinnen würde, aber diese Kenntnisse hatte man ihm bereits gestohlen. Hatte Kalia sie weitergegeben? Vielleicht hatte sie keine Gelegenheit dazu gehabt. Aber wenn sie eine Gedankenlesung gestattete, würde das Wissen ohnehin weitergegeben werden.
Er konnte die Blicke der Anwesenden spüren. Du musst Zeit gewinnen, sagte er sich. Bring sie dazu, zuerst zu versuchen, die Wahrheit auf anderem Wege ans Licht zu bringen.
»Ich werde zustimmen, aber nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt«, erwiderte er.
Erneut sah Riaya die Sprecherinnen an. »Noch weitere Fragen?«
Die Frauen schüttelten den Kopf, und Riaya nickte Lorkin zu. »Du darfst gehen.«
Er kehrte an Tyvaras Seite zurück. Sie nickte ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln.
»Ich rufe Sprecherin Savara auf, um über ihren Anteil an dem Geschehen zu berichten.«
Savara erhob sich. Während sie sprach, erfuhr Lorkin, dass Evar sie auf sein Verschwinden aufmerksam gemacht hatte. Sie hatte überprüft, ob er das Sanktuarium verlassen hatte, und hatte in der Stadt nach ihm gesucht; außerdem hatte sie veranlasst, dass jede Person, die in jüngster Zeit gegen ihn gesprochen hatte, überwacht wurde. Dies führte sie zu einer verlassenen Höhle in der Nähe eines instabilen Teils der Stadt, wo sie Kalia dabei entdeckte, wie sie Lorkins Gedanken las.
Die Vorsitzende erklärte Savara, sie dürfe Platz nehmen, und wandte sich dann an Kalia. »Tritt vor und empfange dein Urteil.«
Kalia stolzierte in die Mitte des Raums und drehte sich dem Tisch zu. Ihr Rücken war gerade und ihre Miene hochmütig.
»Ist Lorkins Bericht wahr?«, fragte Riaya.
Kalia hielt inne und nickte dann. »Ja.«
»Bist du schuldig oder unschuldig an der Entführung eines Verräters und daran, die Gedanken dieses Verräters gegen seinen Willen gelesen zu haben?«
»Schuldig – das heißt, falls du ihn als einen Verräter betrachtest.«
Riaya faltete die Hände. »Dann besteht keine Notwendigkeit, weitere Nachforschungen in dieser Angelegenheit anzustellen.«
»Darf ich das Wort an die Zuschauer richten?«, fragte Kalia.
Riaya sah die Sprecherinnen an. Die sechs Frauen wirkten nicht überrascht. Sie alle nickten, einige eifrig, andere resigniert.
Kalia wandte sich dem Publikum zu. »Mein Volk, ich habe mich um euretwillen dazu getrieben gesehen, unsere Gesetze zu brechen. Ich habe eine Pflicht als eure Heilerin, sicherzustellen, dass euch kein Schaden widerfährt, wenn ihr ins Krankenzimmer kommt. Unlängst hat der Kyralier Lorkin magische Heilung eingesetzt, eine Fähigkeit, die an uns weiterzugeben er sich geweigert hat. Wie konnte ich sicher sein, dass das, was er tat, ungefährlich war? Dass es nicht mehr Schaden als Nutzen haben würde? Er hat behauptet, diese Art der Heilung habe ihre Grenzen, aber wie können wir sicher sein, dass das wahr ist, sollte seine Magie einem von uns jemals Schaden zufügen oder ihn gar töten? Ich habe ihn aus Freundlichkeit einem Neuankömmling gegenüber aufgenommen und ihm eine Beschäftigung gegeben. Ich habe ihm alles Wissen und alle Kenntnisse angeboten, die meine Vorgängerinnen und ich stets geteilt haben. Als Gegenleistung hat er mir den Gehorsam verweigert und mir getrotzt, hat unerprobte Magie ohne Leitung oder Erlaubnis eingesetzt. Wenn er sich weigerte, den Sitten der Verräterinnen zu folgen, ist er dann wahrhaft einer von uns? Ich sage, er ist es nicht. Und wenn er kein Verräter ist, dann war mein Tun nicht ungesetzlich. Es war gerechtfertigt und notwendig, zur Verteidigung unseres Volkes.«