»Ich habe nicht erwartet, dass Ihr in diese Lage kommen würdet«, erwiderte er. »Aber danke, dass Ihr darauf aufgepasst habt.«
Sie wirkte erleichtert und zog sich hastig aus dem Raum zurück. Cery las das Schreiben und seufzte vor Erleichterung.
»Sie lebt und ist in Sicherheit«, berichtete er ihnen. »Aber sie haben entdeckt, dass sie eine Spionin war.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte Schreibunterricht für sie arrangieren können.« Er hielt das Stück Papier mit zwei Kritzeleien darauf hoch. »Wir haben einen Code erarbeitet, aber er gibt nicht viele Einzelheiten preis.«
»Werdet Ihr sie treffen und herausfinden können, was geschehen ist?«, fragte Dorrien.
Cery nickte. »Wie bald dieses Treffen stattfinden kann, wird davon abhängen, wie viel ihr Arbeitgeber und der Dieb, der ihm seine Befehle gibt, über sie wissen und ob sie nach ihr suchen.« Seine Miene wurde wieder grimmig. »Ich werde euch Bescheid geben, sobald ich etwas in Erfahrung bringe.«
Sonea legte eine Hand auf seine. »Ich hoffe, es geht ihr gut. Und richte ihr unseren Dank aus.«
Er brachte ein hohles Lächeln zustande. »All das, und wir haben Skellin nicht gefangen.«
»Nun, lass uns hören, was sie sagt, bevor wir es als einen vollkommenen Fehlschlag bezeichnen. Vielleicht hat sie einige Informationen aufgeschnappt, die wir trotzdem benutzen können.«
Er nickte. »Dann sollte ich euch besser zur Gilde zurückbringen, in der gleichen Maskerade, in der ihr hierhergekommen seid.« Er machte ihnen ein Zeichen. »Kommt. Ich habe einige Arrangements getroffen.«
21
Lügen, verborgene Wahrheiten und Täuschungen
Nach einer nervösen Nacht, in der sie schweigend auf dem Dachboden des Hauses gewartet hatten, nachdem die Bewohner – eine Familie mit lärmenden kleinen Kindern – zurückgekehrt waren, folgte ein Tag rastlosen Schlafs in einem winzigen Zimmer unter einem Bolhaus. Lilia begann sich zu fragen, ob ihr Leben in Zukunft dauerhaft einem nächtlichen Zeitplan folgen würde.
Falls es so war, dann hoffte sie, dass sie sich schnell daran gewöhnen würde. Obwohl Anyi ihr versichert hatte, dass sie den Besitzer des Bolhauses kenne, und zuversichtlich genug war, um auf einem der schmalen Betten sofort einzuschlafen, wurde Lilia von jedem Geräusch geweckt. Und wenn man unter einem Bolhaus schlief, bedeutete das, dass es jede Menge Geräusche gab, von denen man erwachen konnte. Sie musste sich jedoch daran gewöhnt haben, denn irgendwann musste Anyi sie wachrütteln.
»Zeit aufzustehen«, sagte Anyi. »Ich habe dir einige Kleider beschafft, dann werden wir mit der Frau, die das Haus führt, zu Abend essen.«
Lilia richtete sich auf, gähnte und ergriff das oberste Kleidungsstück in dem Haufen am Fußende des Bettes. Ein schweres Robenoberteil. Sie runzelte die Stirn. Es war sauber, aber fadenscheinig an den Ellbogen.
»Deine Kleidung ist zu gut«, erklärte ihr Anyi. »Die Leute werden erkennen, dass du nicht hierhergehörst, sobald sie dich sehen. Wenn du verborgen bleiben willst, bis wir deine Freundin gefunden haben, wirst du dich kleiden müssen, als gehörtest du hierher.«
Lilia nickte. »Wenn Schwarzmagierin Sonea das kann, dann kann ich es ebenfalls.«
Anyi kicherte. »Ich werde rausgehen, während du dich umziehst.«
Die alten Kleider rochen nach Holzrauch und Seife. Obwohl sie von rauerem Tuch waren als die Kleider, die man Lilia im Ausguck zu tragen gegeben hatte, weckte etwas daran ein Gefühl behaglicher Vertrautheit in ihr.
Sie erinnern mich an mein Leben, bevor ich Novizin wurde. Sie sind wie die Kleider, die die Dienstboten getragen haben, die die gröberen, schmutzigen Arbeiten erledigt haben.
Sobald sie fertig war, ging sie zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Anyi wartete draußen und winkte ihr zu, als sie sie sah.
»Komm nach oben«, sagte sie. Der kleine Raum lag unter einer Treppe, und jetzt gingen sie in die Etage zwei Stockwerke darüber. Anyi klopfte an eine Tür, und als jemand »Herein« rief, lächelte sie Lilia zu, öffnete die Tür und trat ein.
»Hier ist sie, Donia«, sagte sie und deutete auf Lilia. Eine Frau in mittleren Jahren stand vor einigen im Halbkreis aufgestellten Gästezimmerstühlen. »Das ist Lilia.«
Die Frau verneigte sich. »Lady Lilia, ich denke, das ist der korrekte Titel.«
Lilia errötete. »Nicht direkt. Ich bin keine Magierin mehr. Zumindest keine Gildemagierin.«
Anyi deutete auf die Frau. »Das ist Donia, die Besitzerin diese Bolhauses und eine Kindheitsfreundin von Schwarzmagierin Sonea.«
Lilia sah Anyi überrascht an. »Ist das wahr?«
»Nicht direkt.« Donia schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Ich habe einen ihrer alten Freunde geheiratet, und er ist vor einigen Jahren gestorben. Bitte, nehmt doch Platz. Ich habe etwas zu essen heraufbringen lassen. Möchtet ihr ein Glas Wein?«
Lilia zögerte. Das letzte Mal hatte sie in der Nacht, bevor Nakis Vater gestorben war, Wein getrunken. Ihre Erinnerungen an diese Nacht wurden unterbrochen, als Anyi sie zu den Stühlen hinüberscheuchte.
»Ich werde ein wenig Bol trinken«, sagte Anyi zu Donia. »Falls du welchen anbietest.«
Donia lächelte. »Natürlich. Würdest du Bol vorziehen, Lilia? Ich fürchte, das Wasser hier ist nicht so gut trinkbar wie in den besseren Teilen der Stadt.«
»Wein wäre schön«, erwiderte Lilia bei der Erinnerung an das widerlich süße Getränk, das die Schläger ihr gegeben hatten, und es gelang ihr, nicht zu schaudern.
Donia trat vor einen schmalen Tisch und tippte gegen einen kleinen Gong. Draußen vor der Tür wurden Schritte laut, dann spähte eine jüngere Frau herein, eine Augenbraue fragend hochgezogen.
»Einen Becher Bol, zwei Gläser und eine Flasche von dem guten Wein«, sagte Donia. Die Frau nickte und schloss die Tür. Mit einem Seufzen nahm Donia Platz. »Sie wird nicht lange brauchen. Also … Lilia. Kannst du uns erzählen, wie du in die Stadt gekommen bist, auf dem Weg zu einem Treffen mit Skellin?«
Die Frage wurde sehr sanft gestellt, und Lilia vermutete, dass die Frau, wenn sie sagte, sie könne nicht antworten, dies akzeptieren würde. Aber sie verspürte den Drang zu sprechen, irgendjemandem zu erzählen, was ihr widerfahren war, und herauszufinden, ob ihre Entscheidungen richtig gewesen waren oder nicht. War es klug, mit dieser Fremden zu sprechen?
Es schien, dass es immer neue Schwierigkeiten brachte, wenn irgendjemand wollte, dass sie etwas tat. Zuerst war es Naki gewesen, die sie gedrängt hatte zu versuchen, schwarze Magie zu erlernen. Danach war Lorandra gekommen und hatte sie zu einer Flucht aus dem Ausguck überredet.
Ich kenne Donia nicht. Ich kenne auch Anyi nicht, doch aus irgendeinem Grund vertraue ich ihr. Sie hätte mich direkt zur Gilde bringen können, aber das hat sie nicht getan. Tatsächlich hatte es ihr bisher geholfen, aus Schwierigkeiten herauszukommen, indem sie tat, was Anyi wollte. Ich habe ohnehin keine andere Wahl, als ihr zu vertrauen. Entweder das, oder ich muss versuchen, Naki allein zu finden.
»Du kannst Donia vertrauen«, sagte Anyi. »Sie hat sich jahrelang um mich gekümmert. Je mehr wir wissen, umso größer wird die Chance sein, dass wir deine Freundin finden.«
Lilia nickte. Sie begann mit der Nacht, in der sie und Naki in die Bibliothek gegangen waren und die Anweisungen für die Benutzung von schwarzer Magie ausprobiert hatten. Sie begann dort, weil sie ihnen von der Ermordung Lord Leidens erzählen musste, die vielleicht mit Nakis Verschwinden zusammenhing. Anschließend erzählte sie ihnen alles bis zu dem Punkt, an dem Anyi sie vor der bevorstehenden Begegnung mit Skellin gerettet hatte. Sie hielt nur dann inne, als die Dienerin mit den Getränken kam und später zwei männliche Diener das Essen hereinbrachten. Der Wein löste ihre Zunge noch mehr, und sie gestand einige dunklere Gedanken, die sie bisher für sich behalten hatte, wie zum Beispiel ihre Angst, dass sie Nakis Vater doch getötet und es dann wegen des Feuels und des Weins vergessen hatte.