Jetzt, da Lilia und Anyi dort wohnten, musste er häufiger Essen bringen, was es gewiss schwieriger machte, das Versteck geheim zu halten, oder zumindest das Risiko vergrößerte, dass jemand ihn erkannte und ihm folgte. Cery war jedoch sehr beharrlich gewesen mit seiner Forderung, dass sie blieben. Anyi hatte mit ihm gestritten und verloren.
Es hatte Lilia erstaunt zu sehen, wie unerschrocken Anyi mit ihrem Arbeitgeber umging, wenn man bedachte, dass der Mann ein Dieb war. Die junge Frau legte in Cerys Nähe eine Mischung aus Loyalität, Beschützerinstinkt und Trotz an den Tag, und er duldete Letzteres mit überraschender Geduld. Statt seinen Willen mit Befehlen und Disziplin durchzusetzen, gelang es ihm, ihre Forderungen oder Einwände geschickt zu umschiffen.
Anyi dazu zu bringen, sich bereit zu erklären hierzubleiben, hatte er nicht einmal versucht. Er hatte sich einfach an Lilia gewandt und einen Handel vorgeschlagen: Er würde ihr helfen, Naki zu finden, und sie sowohl vor der Gilde als auch vor Skellin versteckt halten, wenn sie als Gegenleistung dafür ihn und Anyi beschützte. Sie hatte zugestimmt.
Die beste Möglichkeit, Anyi zu beschützen, so stellte sich heraus, war die, sie dazu zu bringen, im Versteck zu bleiben. Die einfachste Möglichkeit, wie Lilia sie im Versteck festhalten konnte, bestand darin, selbst hierzubleiben. So einfach war es jedoch nicht. Je eingeengter Anyi sich fühlte, desto mehr war sie geneigt, ihre überschüssige Energie auf Widerspruch zu richten. Als Gol am Abend mit dem Essen zurückkam, umkreiste sie ihn voller Eifer.
»Hast du irgendein Zeichen dafür entdeckt, dass Lorandra, Jemmi oder Rek nach mir oder Lilia suchen?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete er, ging um sie herum und stellte einen Sack auf den niedrigen Tisch zwischen den Gästezimmerstühlen.
Anyi wandte sich an Cery. »Siehst du? Wenn sie die Verbindung hergestellt hätten, würden sie gewiss nach uns suchen.«
»Skellin ist nicht dumm«, erwiderte Cery. »Er weiß, dass du entweder bei mir bist oder allein draußen in der Stadt. Wenn du draußen wärst, wären die Chancen größer, dass jemand dich sehen und es ihm berichten würde. Wenn du bei mir bist … nun, er hat bereits jede Menge Leute, die nach mir suchen.«
»Aber was ist, wenn Rek Lorandra nicht erzählt hat, dass ich früher für dich gearbeitet habe?«
»Was soll er ihr und Jemmi denn sonst erzählen, um sie davon zu überzeugen, dass es nicht von Anfang an seine Idee war, dass du Lilia weggebracht hast?«
»Vielleicht hat er es nur Jemmi erzählt.«
Cery deutete auf einen Stuhl. »Setz dich, Anyi«, befahl er.
Sie gehorchte, starrte ihn aber weiter an, während Gol begann, gut eingepackte fertige Speisen aus dem Sack zu nehmen und die Verpackung aufzureißen. Sie sollte verhindern, dass der Geruch der Speisen entwich und eine Spur durch die Tunnel zum Versteck bildete. Köstliche Gerüche erfüllten den Raum.
»Jemmi wird Lorandra erzählt haben, dass du meine Spionin sein musst, in der Hoffnung, sie davon zu überzeugen, dass es keine Verschwörung gab«, fuhr Cery fort. »Ob es dir gefällt oder nicht, Anyi, sie wissen, dass dein Verrat nicht echt war. Du sitzt hier bei mir fest.«
Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte Lilia, als Anyis Schultern heruntersackten. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Anyi Cery von ihrer Begegnung mit Heyla erzählt hatte.
»Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand nach dir sucht«, sagte Gol zu Anyi. »Aber ich habe gehört, dass die Leute nach jemandem suchen, bei dem es sich der Beschreibung nach um Naki handeln könnte. Es sind nicht unsere Leute oder die Gilde, denke ich. Es sind Leute, von denen sie meiner Meinung nach wirklich nicht will, dass sie sie finden.«
Lilia richtete sich höher auf. »Es sucht sonst noch jemand nach ihr?«
Gol nickte, dann sah er Cery an. Die Augen des Diebs wurden schmal.
»Also beginnt das Wettrennen«, sagte er.
»Wer sucht nach ihr?«, fragte Lilia. »Und warum?«
»Skellin«, antwortete Cery. »Es ist kein Geheimnis, dass Naki verschwunden ist und dass sie und Lilia versucht haben, schwarze Magie zu erlernen. Die Tatsache, dass Naki keinen Erfolg hatte, macht sie nur zu einer geringfügig weniger erstrebenswerten Gefangenen als Lilia. Sie kann Skellin trotzdem alles erzählen, was sie gelesen und getan hat. Wenn Lilia mit der gleichen Information Erfolg hatte, besteht schließlich die Chance, dass er es ebenfalls schaffen würde. Wenn er es nicht tut«, Cery sah Lilia an und verzog das Gesicht, »weiß er doch, dass Lilia etwas an Naki liegt. Er wird versuchen, sie dazu zu erpressen, ihn schwarze Magie zu lehren, im Austausch für Naki.«
»Wir müssen Naki als Erste finden«, stellte Anyi fest.
»Ja.« Cery lächelte dünn. »Skellins Suche nach ihr könnte uns helfen. Ich habe Leute, die seine Leute beobachten. Wenn sie den Eindruck erwecken, als hätten sie Antworten gefunden, werden meine Leute denselben Leuten dieselben Fragen stellen. Wenn sie den Eindruck erwecken, als stünden sie im Begriff, an einem anderen Ort zu suchen, werden meine Leute sie beobachten, bereit, Naki bei der Flucht zu helfen.«
Irgendwo hinter den Mauern läutete eine Glocke. Cery sah Gol an, der einen bedauernden Blick auf die geöffneten Päckchen mit Essen warf.
»Wir werden dir etwas aufheben«, versprach Cery.
Der massige Mann seufzte und eilte zu der versteckten, in die Vertäfelung des Raums eingebauten Tür. Anyi stand auf, nahm einige Teller und Besteck aus einem Seitenschrank und verteilte sie, bevor sie sich zu ihnen setzte. Lilia und Cery begannen sich zu bedienen und zu essen. Gol hatte mehrere gebackene Fische in süßsaurer Soße mitgebracht, außerdem gebratenes Wintergemüse und frisch gebackenes Brot.
Kurze Zeit später kehrte Gol zurück. Diesmal war es Cery, der enttäuscht wirkte, als er und Gol fortgingen. Sobald sie allein waren, sah Lilia Anyi an.
»Denkst du, Heyla ist da draußen und erzählt herum, dass sie uns gesehen hat?«
Anyis Miene verdüsterte sich. »Wahrscheinlich. Sie hat es schon früher getan. Wenn sie es tut, wird sie sich größeren Ärger einhandeln, als ihr bewusst ist.«
»Weiß Cery über sie Bescheid?«
»Irgendwie schon.« Anyi blickte gequält drein. »Ich habe angefangen für Cery zu arbeiten, als Heyla und ich bereits nicht mehr befreundet waren. Ich habe ihm erzählt, dass eine Freundin versucht habe, mich zu verkaufen, aber ich habe ihm nicht gesagt, wer sie war.«
»Wenn du nicht für Cery gearbeitet hast, wieso wusste sie dann über ihn Bescheid?«
Anyi stutzte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Oh, ich kannte ihn. Aus der Ferne. Wie dem auch sei … ich würde lieber nicht über sie reden.«
Lilia nickte. »Deine Geheimnisse sind bei mir sicher.«
Anyi schaute zu Lilia auf, aber sie lächelte nicht. Stattdessen musterte sie Lilia mit nachdenklicher Miene, in der ein Anflug von Spekulation lag.
»Was?«, fragte Lilia.
»Nichts.« Anyi wandte den Blick ab, dann sah sie sie wieder an. »Wie nah hast du Naki gestanden?«
Lilia blickte auf ihren Teller. »Sehr nah. Nun, nicht mehr so nah, nachdem sie dachte, ich hätte ihren Vater getötet.«
Anyi verzog mitfühlend das Gesicht. »Ja, das wäre eine Prüfung für eine Freundschaft. Nicht nur für sie, weil sie gedacht hat, du hättest es getan – es muss dich ebenfalls verletzt haben, dass sie auch nur diesen Verdacht haben konnte.«
Lilia sah Anyi nachdenklich an. Sie hat nicht ganz unrecht, ging es Lilia durch den Kopf. Wie konnte Naki denken, ich hätte es getan? Vor allem, nachdem Schwarzmagierin Sonea meine Gedanken gelesen und gesagt hat, ich sei es nicht gewesen.
Das gewohnte Muster von Glockengeläut und Klopflauten warnte sie, dass sich jemand dem Versteck näherte. Anyi sprang auf, antwortete ihrerseits mit einem mehrfachen Klopfen und bediente die Mechanismen, um Cery und Gol wieder in den Raum zu lassen.