»Außerdem hast du keine Zeit mehr, alles zu lernen, was wir über die Herstellung von Steinen wissen«, fuhr sie fort. »Es gibt dringendere Angelegenheiten, um die du dich kümmern musst. Das ist der Grund, warum ich dir befehle, das Sanktuarium zu verlassen und nach Kyralia zurückzukehren.«
Er sah sie überrascht und, unerwarteterweise, entsetzt an. Er wollte nicht fortgehen. Nein, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Ich will durchaus gehen. Ich will meine Mutter und meine Freunde wiedersehen. Aber ich will auch ins Sanktuarium zurückkehren können. Er schaute Tyvara an. Werde ich sie wiedersehen? Sie lächelte. Es war ein beruhigendes Lächeln. Es schien zu sagen: »Abwarten.«
Ein wissender Ausdruck trat in die Züge der Königin und vielleicht ein Anflug von Schelmerei. Sie richtete den Blick auf Tyvara, dann wieder auf ihn. Ihre Miene wurde erneut ernst. »Wenn du dort eintriffst und gut aufgenommen wirst, sollst du ein Bündnis zwischen uns und den Verbündeten Ländern aushandeln.«
Lorkin konnte es nicht verhindern: Er keuchte vor Überraschung leise auf. Das ist es, worauf ich gehofft habe! Nun, ich hatte gehofft, die Verräterinnen und die Gilde würden magisches Wissen nach einem Bündnis austauschen, nicht vorher, aber …
»Tyvara wird dich aus den Bergen führen, dann wirst du nach Arvice reisen, um dich wieder dem kyralischen Botschafter anzuschließen. Um das, was du über uns weißt, geheim zu halten, werden wir dir einen Blockadestein geben. Obwohl es für den König und die Ashaki von politischem Schaden wäre, wenn jemand gegen deinen Willen deine Gedanken läse, könnten sie zu dem Schluss kommen, es sei die Sache wert, um die Chance zu erhalten, uns zu finden. Wir würden dich direkt zu dem Pass bringen, der nach Kyralia führt, aber zu dieser Zeit des Jahres ist eine Reise über die Berge zu gefährlich, denn die Ichani werden kühner, wenn der Hunger sie plagt.« Sie musterte ihn mit ihren leuchtenden Augen. »Wirst du es tun?«, fragte sie.
Er nickte. »Mit Freuden.«
»Gut. Also, ich muss dir etwas geben.«
Sie griff nach einem kleinen Beutel, der auf ihrem Schoß lag und den er zuvor nicht bemerkt hatte. Nachdem sie die Schnüre gelöst hatte, kippte sie den Beutel, und ein Ring fiel in ihre Hand. Sie hielt den Ring hoch und musterte ihn, ihre Miene nachdenklich und traurig, dann streckte sie Lorkin die Hand hin.
Er nahm den Ring entgegen. Er war aus Gold, aber sehr grob gearbeitet, als habe ein Kind ihn aus Ton gefertigt. In den Ring eingelassen war ein dunkelroter Edelstein.
»Dein Vater hat mir diesen Ring vor langer Zeit geschenkt. Tatsächlich habe ich ihn gelehrt, ihn zu machen. Natürlich funktioniert er nicht mehr.«
Ein Frösteln überlief Lorkin, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Vater hat diesen Ring gemacht! Er drehte ihn hin und her, und der Stein fing das Licht auf. Hatte sein Vater sich auf die Herstellung von Steinen verstanden? Gewiss nicht. Die Antwort war ihm plötzlich klar. Es muss ein Blutstein sein. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis trafen ihn wie ein Schlag. »Du hast die ganze Zeit über mit ihm in Verbindung gestanden!«
Zarala nickte. Ihre Augen waren umwölkt. »Ja. Für eine Weile.«
»Also weißt du, warum er nicht hierher zurückgekehrt ist!«
»Falls er diesbezüglich jemals eine Entscheidung getroffen hat, hat er es mir nicht mitgeteilt.« Sie seufzte. »Ich weiß, dass er aus Furcht vor einer Invasion der Ichani nach Hause zurückgekehrt ist, und ich war nicht seiner Meinung. Ich glaubte nicht, dass die Gefahr unmittelbar drohte. Anschließend … es gab immer irgendetwas, das ihn daran hinderte, Kyralia zu verlassen. Und bei unserem Handel ging es um mehr als um einen Austausch von höherer Magie und Freiheit als Gegenleistung für die magische Heilkunst.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nie in der Lage, meine Seite des Handels einzuhalten. Es ging mir wie ihm: Die Situation daheim war schwieriger zu überwinden, als ich gehofft hatte. Nach dem Tod meiner Tochter habe ich … habe ich aufgehört, mich mit ihm in Verbindung zu setzen. Ich wusste, dass ich zum Teil mitschuldig war an ihrem Tod, weil ich zu viel von ihm verlangt und mich meinerseits verpflichtet hatte, als Gegenleistung zu viel zu geben.« Die alte Königin holte tief Luft und stieß den Atem dann wieder aus. Ihre mageren Schultern hoben und senkten sich. »Wir waren beide jung und idealistisch und dachten, wir könnten mehr ausrichten, als in unserer Macht stand. Ich glaube, es war seine Absicht zurückzukehren. Mein Volk glaubte das nicht, und ich konnte es nicht vom Gegenteil überzeugen, ohne zu offenbaren, was es war, das mir zu tun misslungen war.« Sie beugte sich vor, legte beide Hände um Lorkins Hand und schloss sie um den Stein. Über ihre Hände hinweg schaute sie ihn an, und ihr Blick war fest. »Indem ich dich nach Kyralia schicke, werde ich zu einem guten Teil einhalten, wozu ich mich bereitgefunden habe. Ich hoffe nur, dass ich anders als dein Vater lange genug leben werde, um mein Versprechen zu halten. Und nun geh.« Sie ließ seine Hände los und richtete sich auf. »Tyvara hat die Vorbereitungen getroffen, und heute ist eine klare Nacht. Sei vorsichtig und gib auf dich acht.«
Er erhob sich, verneigte sich respektvoll und verließ hinter Tyvara den Raum und die Stadt, von der er erwartet hatte, dass sie erheblich länger als nur einige Monate sein Zuhause sein würde.
24
Ein Treffen
Die Pferde, die die Menschen die Straße am Steilabbruch hinauftrugen, waren kleine, stämmige Tiere. Dannyl war davon überzeugt, dass seine Füße über den Boden scharren würden, wäre sein Reitpferd nicht so breit gewesen. Die Tiere trugen nicht häufig Menschen, da Besucher in Duna – oder in dessen trockeneren Gebieten – selten waren. Sie waren mehr daran gewöhnt, Nahrungsmittel und andere Vorräte zu tragen.
Kutschen waren zu breit für die schmale Straße, die sich zudem in sehr engen Kurven emporwand. Es ging ständig so dicht an der Felswand entlang, dass Dannyl gelegentlich mit einem Stiefel dagegenschrammte. Der andere Stiefel schwebte derweil über dem Abgrund.
Obwohl er keine Höhenangst kannte, machte ihm die ständige Drohung eines Absturzes zu schaffen. Achati schien mit den Zähnen zu knirschen und hielt den Blick entschlossen auf die Straße vor ihm gerichtet. Tayend machte das ganze Unternehmen offenbar überhaupt nichts aus, obwohl er nicht über beruhigende Magie verfügte, die er hätte heraufbeschwören können, sollte er oder sein Pferd ausrutschen.
Der Vorteil der ungeschützten, gefährlichen Route war die Aussicht.
Die Straße hatte etwa auf halber Länge des Tals ihren Ausgang genommen. Hinter ihnen lag der breitere Teil des Talgrunds, unterteilt in Felder, an deren Rändern in Gruppen Häuser standen. Ein bleiches Band aus grauem Sand trennte am Ende das grüne Land vom blauen Meer. Vor ihnen wurde das Tal schmaler, und die Felsen rückten von beiden Seiten her immer dichter zusammen. Ein Band aus Wasser schlängelte sich durch die ganze Länge des Tals und glitzerte, wann immer die Sonne sich auf seiner Oberfläche spiegelte.
Dannyl, der geradeaus blickte, sah, dass an der nächsten Biegung mehrere Menschen standen. Die einzigen Stellen des Pfades, die breit genug waren, dass Reisende aneinander vorbeigehen konnten, waren die Haarnadelkurven. Die Menschen, die dort warteten, waren offensichtlich Duna: schlank, mit grauer Haut und nur mit einem Tuch bekleidet, das sie sich um die Lenden schlangen. Sie trugen auf den Schultern große Säcke.
Der Führer rief einige Grußworte, als er näher kam. Die Duna – allesamt Männer – antworteten nicht und bewegten sich auch nicht. Vielleicht machten sie zum Gruß irgendein Zeichen, denn der Führer lächelte, als er sich umdrehte und den nächsten Teil der Straße hinaufritt. Achati drehte sich als Nächster um, und die grimmige Entschlossenheit in seinen Zügen, die er an den Tag gelegt hatte, seit sie mit dem Aufstieg begonnen hatten, veränderte sich nicht. Dannyl lächelte die Männer im Vorbeireiten an. Sie starrten zurück, und ihre Gesichter waren leidenschaftslos, verrieten weder Feindseligkeit noch Freundlichkeit. Er fragte sich, ob ihre Neugier auf ihn genauso groß war wie seine Neugier auf sie. Hatten je zuvor Kyralier ihre Länder besucht? Hatten Gildemagier es getan? Ich bin vielleicht der erste.