Ihr Blick war jetzt voller Hass. Eine vertraute Woge von Schuldgefühlen schlug über Lilia zusammen, aber sie widerstand dem Drang wegzuschauen. Ich habe ihren Vater nicht getötet, sagte sie sich. Sie hat keinen Grund, mich zu hassen. Aber die Ungewissheit blieb. Naki wollte offensichtlich nicht gerettet werden. Was tue ich jetzt?
Naki brach das Gesetz. Und sie wusste es. Sie darauf hinzuweisen würde sie nicht dazu bringen, in die Gilde zurückzukehren. Wenn sie jedoch erfuhr, worauf Skellin aus war, würde sie es vielleicht tun. Sie würde den Schutz der Gilde brauchen. Es sei denn … Was, wenn Naki mit Freuden einen Dieb als Arbeitgeber gegen einen anderen einzutauschen bereit war? Lilia begriff, dass sie es auf eine andere Weise versuchen musste. Eine, die Nakis Wesen entsprach.
»Bist du wahrhaft frei?«, fragte Lilia. Sie sah den fetten Dieb vielsagend an.
Naki lächelte. Offenkundig hatte sie diesen Einwand erwartet. »So frei ich sein will. Freier, als ich es in der Gilde wäre.«
»Aber für wie lange?«, hakte Lilia nach. »Es sind Leute hinter dir her. Nicht die Gilde. Mächtige wilde Magier.«
»Wunderbar.« Naki zuckte die Achseln. »Wir werden zusammen etwas trinken und uns Geschichten erzählen.«
»Sie sind nicht auf Gespräche aus«, erklärte Lilia, verärgert über Nakis Weigerung, diese Gefahr zu erkennen. »Sie werden dich zwingen, ihnen zu sagen, was in dem Buch stand, und dann werden sie dich töten.«
Naki runzelte die Stirn. »Das Buch?« Vom Lagerhaus gellte ein durchdringender Pfiff, und Naki schaute in diese Richtung, bevor sie sich wieder an Lilia wandte. »Oh, du meinst schwarze Magie? Wirklich, denkst du, ich würde sie das lehren?«
Etwas begann gegen den Schild zu dreschen, den Lilia um Cerys Verbündete gelegt hatte. Sie schaute zur Seite und sah, dass der mit Cery befreundete Dieb und sein Helfer sich zu befreien versuchten. Dann bemerkte sie, dass der fette Dieb sich mit seinen Männern zu dem Fischerboot zurückzog. In der Hoffnung, dass niemand mehr übrig war, um Cerys Verbündeten etwas anzutun, ließ sie den Schild um sie sinken.
Naki kam auf sie zu. Die Schatten ließen ihr Lächeln wie ein wahnsinniges Grinsen aussehen.
»Weißt du«, sie neigte den Kopf zur Seite, und ihre Miene wurde nachdenklich, »wenn der Preis stimmte, könnte mich das vielleicht in Versuchung führen, mit den wilden Magiern zusammenzuarbeiten.«
Naki befand sich nur noch wenige Schritte entfernt. Ihr Blick war raubtierhaft und gefährlich. Lilia wich unwillkürlich zurück. Und stärkte den Schild, der sie selbst umgab.
»Das würdest du nicht tun.«
»Oh, natürlich nicht. Es wäre nicht klug, nicht wahr? Ich würde mir potenzielle Feinde schaffen, die genauso mächtig wären wie ich.«
»Genauso mächtig wie …« Lilia hörte auf zurückzuweichen. »Du hast doch in dieser Nacht schwarze Magie erlernt!«
»Nein.« Nakis schöner Mund verzog sich zu einem hässlichen, selbstzufriedenen Lächeln. »Das habe ich mir beigebracht, bevor wir beide uns überhaupt kennengelernt haben.«
Sie spreizte die Finger, und ein magischer Schlag krachte gegen Lilias Schild. Dies war kein vorsichtiger Übungsangriff im Kriegskunstunterricht. Es war ein Schlag, der Lilia zurückzwang, bevor sie verzweifelt mehr Macht in sich hineinzog, als sie jemals zuvor benötigt hatte, um ihren Schild aufrechtzuerhalten.
Ich sollte zurückschlagen. Die Erinnerung an ihre Lektionen trat an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Ein Schild erforderte mehr Magie als ein Schlag. Wenn zwei Kämpfer gleich stark waren, würde derjenige, der sich mehr auf seinen Schild konzentrierte, als erster scheitern.
Aber es ist Naki. Was ist, wenn ich sie verletze? Was ist, wenn ich sie töte?
Naki hatte offensichtlich nicht die gleichen Zweifel. Ihre Worte hallten in Lilias Kopf wider. Das habe ich mir beigebracht, bevor wir beide uns überhaupt kennengelernt haben. Das bedeutete, dass Naki gewusst hatte, dass die Anweisungen in dem Buch funktionieren würden. Sie hatte gewusst, dass sie Lilias Leben zerstörte. Lilia spürte, wie sie vor dem Gedanken zurückschreckte. Warum sollte Naki das tun? Um das Verbrechen mit einem anderen zu teilen? Was bedeutete, dass Lilia in der Nacht der Ermordung Lord Leidens nicht die einzige Person im Haus gewesen war, die sich auf schwarze Magie verstand.
Aber gewiss würde sie doch nicht ihren eigenen Vater töten …
Wer hätte es sonst gewesen sein können? Plötzlich musste Lilia es mit Bestimmtheit wissen – und die einzige Möglichkeit, wie sie das tun konnte, bestand darin, dass sie Nakis Gefangennahme sicherstellte, damit Schwarzmagierin Sonea ihre Gedanken lesen konnte. Oder ich. Ich könnte ihre Gedanken lesen. Und die beste Chance, die sie hatte, um das zu tun, war ein Gegenangriff.
Vorsichtig. Sie würde die Wahrheit niemals erfahren, wenn Naki starb.
Also schleuderte sie Naki Magie entgegen. Zuerst waren ihre Schläge schwach im Vergleich zu Nakis Angriffen, und das andere Mädchen lachte, aber Lilia gewöhnte sich schnell daran, mehr Macht zu benutzen. Nakis Schläge waren achtlos, was Lilia mit einem Anflug von Furcht erfüllte.
Ist sie vielleicht stärker geworden, wenn sie die schwarze Magie schon so lange beherrscht? Ich habe kein einziges Mal schwarze Magie benutzt. Ich bin nur so stark, wie ich es aus mir selbst heraus bin, und ich habe eine Menge Kraft auf das Schweben verwendet.
Bei diesem Gedanken schlug eine Welle der Panik über Lilia zusammen. Sie schob die Regung beiseite, so gut sie konnte. Obwohl sie zitterte, gelang es ihr, ihre Schläge akkurat und ihren Schild ruhig zu halten. Ein Teil von ihr war erheitert zu sehen, dass Naki sich, obwohl Kriegskunst ihre beste Disziplin gewesen war, nicht die Mühe machte, etwas Trickreiches oder Raffiniertes zu tun, aber ihre Erheiterung löste sich in Luft auf, als sie begriff, dass Naki es deshalb nicht tat, weil sie es nicht nötig hatte. Sie wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Als Lilia das nächste Mal nach Macht griff, musste sie feststellen, dass ihre Reserven erschöpft waren. Sie schnappte vor Entsetzen und Ungläubigkeit nach Luft, als ihr Schild zusammenbrach, und wappnete sich gegen den Schlag, der sie töten würde. Naki heulte triumphierend auf, aber der Schlag kam nicht. Zu Lilias ungeheurer Erleichterung hörte das Mädchen auf, sie anzugreifen, und kam auf sie zu.
»Du hast keine Magie genommen, nicht wahr?«, fragte Naki und griff nach Lilias Arm. Sie schüttelte den Kopf. »Du warst die ganze Zeit frei und hast kein einziges Mal Macht genommen. Du warst schon immer dumm und leichtgläubig.« Mit einem Stoß drehte sie Lilia um und drückte ihr den Arm hinter den Rücken. Schmerz durchzuckte Lilias Arm und Schulter.
»Wenn du so klug bist, warum arbeitest du dann für einen Dieb?«, erwiderte Lilia. »Warum arbeitet er nicht für dich?«
Naki lachte leise. »Oh, ich lerne gerade erst die Grundlagen des Gewerbes.«
Sie bewegte sich, und etwas Kaltes, Scharfes berührte Lilias Hals. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie sich das Mondlicht auf der Schneide eines Messers fing. Ein kalter Schauer überlief sie, als sie begriff, was Naki vorhatte, gefolgt von einem tiefen, reißenden Schmerz in der Brust. Sie wird mich doch töten. Die ganze Zeit habe ich gehofft, dass sie sich in einen ihrer verrückten Pläne verstrickt hat. Dass sie leichtsinnig ist und mich nicht wirklich verletzen will. Aber sie liebt mich nicht. Sie hat es vermutlich nie getan.
Sie hat recht. Ich bin dumm …
Dann riss Naki Lilia zurück und ließ sie los. Lilia hörte ein Krachen, als sie, aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte und auf den Rücken fiel.
Irgendwo in der Nähe fluchte jemand leise. Rufe erklangen, dann das Geräusch von Menschen, die rannten. Als Lilia sich umschaute, sah sie Anyi, Gol und Cery herbeieilen. Aus einer anderen Richtung kam eine Magierin, deren schwarze Roben hinter ihr herflatterten.