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Ebenso wenig war ihr klar, womit Esme eigentlich ihr Geld verdiente. Esmes Familienzweig war zwar vermögend, aber so weit, so die gängige Meinung, war es damit auch wieder nicht her, dass Esme davon all die Jahre ihren bequemen Lebensstil hätte bestreiten können. Die wenigen Gemälde, die sie gelegentlich verkaufte, reichten, wie Millys Vater es ausdrückte, nicht einmal, um damit ihre Samtschals zu bezahlen; ansonsten aber bezog sie offensichtlich kein Einkommen. Infolgedessen gab die Frage nach Esmes Geld Anlass zu so mancher Spekulation. Eines der letzten Gerüchte, die in Bath kursierten, war, dass sie einmal im Monat nach London reiste, um es dort gegen ein ansehnliches Taschengeld mit einem alternden Millionär ganz unbeschreiblich zu treiben. »Also, wirklich, was für ein Unsinn«, hatte Olivia gesagt, als sie davon gehört hatte – um dann im nächsten Atemzug einzuräumen: »Aber möglich wär’s wohl schon …«

»Nimm dir doch einen.« Esme reichte Milly einen Teller mit Gebäck, jedes einzelne eine wunderbare, einzigartige Kreation.

»Mhm, die sehen aber gut aus!« Milly schwankte, ob sie ein mit Kakaospiralen oder ein mit Mandelsplittern dekoriertes Plätzchen nehmen sollte. »Wo hast du die denn her?«

»Aus einem kleinen Laden, den ich kenne«, erklärte Esme. Milly nickte und biss in die Kakaospiralen: Ein himmlischer, schokoladiger Geschmack erfüllte sofort ihren Mund. Esme schien alles von winzigen, namenlosen Läden zu beziehen – im Gegensatz zu Olivia, die große Häuser mit wohl bekannten Namen vorzog. Fortnum and Mason. Harrods. John Lewis.

»Na, erzähl mal, wie geht’s mit den Hochzeitsvorbereitungen voran?«, erkundigte sich Esme, die sich vor dem Kamin auf den Boden gesetzt hatte und die Ärmel ihres grauen Kaschmirpullovers hochschob. Der Opalanhänger, den sie immer trug, schimmerte im Licht des Feuers.

»Gut«, sagte Milly. »Du weißt ja, wie das ist.« Esme zuckte unverbindlich die Achseln, und Milly registrierte, dass sie schon seit Wochen, wenn nicht Monaten, nicht mehr mit ihrer Patin gesprochen hatte. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Seit Millys Teenagertagen war ihre Beziehung immer in Phasen verlaufen. Wann immer zu Hause dicke Luft geherrscht hatte, war Milly umgehend zu Esme aufgebrochen. Esme verstand sie immer, Esme behandelte sie stets wie eine Erwachsene. Milly verbrachte dann Tage bei ihrer Tante, machte sich ihre Gedanken zu eigen, nahm ihre Ausdrucksweise an und half ihr, interessante Gerichte mit Zutaten zuzubereiten, von denen Olivia noch nie gehört hatte. Sie saßen in Esmes Wohnzimmer, tranken gekühlten Weißwein, lauschten Kammermusik. Milly fühlte sich erwachsen und kultiviert und schwor sich, künftig nach Esmes Fasson zu leben. Kaum war sie dann wieder ein oder zwei Tage zu Hause, nahm sie ihr Leben genau da wieder auf, wo sie es verlassen hatte – und Esmes Einfluss belief sich auf nicht mehr als das eine oder andere neue Wort oder eine Flasche kaltgepressten Olivenöls.

»Tja, Schatz«, sagte Esme gerade. »Wenn es nicht die Hochzeit ist, was ist es dann?«

»Es ist die Hochzeit«, erwiderte Milly. »Aber es ist ein bisschen kompliziert.«

»Simon? Habt ihr euch gestritten?«

»Nein«, sagte Milly sofort. »Nein. Es ist nur …« Sie stieß scharf den Atem aus und legte ihr Plätzchen fort. »Ich brauche bloß einen Rat. Einen … hypothetischen Rat.«

»Einen hypothetischen Rat?«

»Ja«, versetzte Milly verzweifelt. »Einen hypothetischen.«

Es trat eine kleine Pause ein, dann sagte Esme: »Ich verstehe.« Sie schenkte Milly ein katzenähnliches Lächeln. »Erzähl weiter.«

Um ein Uhr wurde Simon ein Anruf aus Paris durchgestellt.

»Simon? Ich bin’s, Isobel.«

»Isobel! Wie geht’s dir?«

»Hast du eine Ahnung, wo Milly steckt? Ich habe sie zu erreichen versucht.« Isobels Stimme klang lächerlich fern und blechern, fand Simon. Herrje, sie war doch nur in Paris.

»Ist sie denn nicht in der Arbeit?«, fragte Simon.

»Anscheinend nicht. Hör mal, hattet ihr beide Streit miteinander? Sie hat schon mehrfach versucht, mich zu erreichen.«

»Nein«, meinte Simon überrascht. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Dann muss es etwas anderes sein«, sagte Isobel. »Ich versuch’s mal zu Hause. Also, wir sehen uns, wenn ich wieder da bin.«

»Warte«, sagte Simon unvermittelt. »Isobel – ich möchte dich um etwas bitten.«

»Ja?« Sie klang argwöhnisch. Oder vielleicht war das auch nur seine Paranoia. Simon empfand Isobel immer als etwas schwierig. Sie sagte immer so wenig. Wann immer er mit ihr sprach, wurde er unter ihrem musternden Blick grundsätzlich unsicher und fragte sich, was im Himmel sie von ihm hielt. Natürlich mochte er sie – aber er fand sie auch ein kleines bisschen Furcht einflößend.

»Es ging tatsächlich um einen Gefallen«, sagte er. »Ich habe mich gefragt, ob du mir für Milly ein Geschenk besorgen könntest.«

»Was soll’s denn sein?«

Milly an ihrer Stelle, dachte Simon, hätte sofort gerufen »Ja, klar!« – und sich erst dann nach Einzelheiten erkundigt.

»Ich möchte ihr eine große Chaneltasche schenken.« Er schluckte. »Könntest du also vielleicht eine für sie aussuchen?«

»Eine Chaneltasche?«, fragte Isobel ungläubig. »Ja, hast du denn eine Ahnung, wie viel die kostet?«

»Ja.«

»Hunderte.«

»Schon klar.«

»Simon, du bist verrückt. Milly möchte keine Chaneltasche.«

»Doch, möchte sie schon!«

»Das ist doch gar nicht ihr Stil.«

»Aber natürlich«, versetzte Simon. »Milly mag elegante, klassische Stücke.«

»Na, wenn du meinst«, erwiderte sie trocken. Dann seufzte sie. »Simon, ist es, weil dein Vater euch eine Wohnung kauft?«

»Nein«, sagte Simon. »Natürlich nicht.« Er zögerte. »Woher weißt du davon?«

»Mummy hat’s mir erzählt. Und von den Ohrringen auch.« Isobels Stimme wurde weich. »Schau, ich kann mir schon vorstellen, dass der Augenblick nicht einfach für dich war. Aber das ist noch lange kein Grund, dass du jetzt all dein Geld für eine teure Tasche rauswirfst.«

»Milly verdient das Beste.«

»Sie hat das Beste. Sie hat dich!«

»Aber …«

»Jetzt hör mal, Simon. Wenn du Milly wirklich etwas kaufen willst, dann kauf etwas für die Wohnung. Ein Sofa. Oder einen Teppich. Darüber würde sie sich freuen.«

Stille.

»Du hast recht«, meinte Simon schließlich.

»Na klar.«

»Es ist bloß …« Simon atmete aus. »Mein Scheißvater!«

»Ich weiß«, sagte Isobel. »Aber was willst du machen? Er ist ein großzügiger Millionär. So ’ne Scheiße.« Simon zuckte zusammen.

»Gott, du bist hart, nicht? Ich glaube, ich ziehe deine Schwester vor.«

»Mir recht. Du, ich muss los. Ich muss einen Flieger erreichen.«

»Okay. Hör zu, Isobel, danke. Ich bin dir wirklich dankbar.«

»Ja, ja. Ich weiß. Bye.« Und bevor Simon noch etwas sagen konnte, hatte sie aufgelegt.

»Also gut.« Milly zog die Schultern hoch und sah von Esme fort ins flackernde Feuer. »Angenommen, es gibt da eine Person. Und diese Person hat ein Geheimnis.«

»Eine Person«, sagte Esme und sah sie fragend an. »Und ein Geheimnis?«

»Ja.« Milly starrte noch immer ins Feuer. »Und angenommen, sie hat noch keiner Menschenseele davon erzählt. Noch nicht einmal dem Mann, den sie liebt.«

»Warum nicht?«

»Weil er es nicht zu wissen braucht«, meinte Milly trotzig. »Weil es nur eine dumme, bedeutungslose Sache ist, die vor zehn Jahren geschah. Und wenn es herauskäme, würde es alles kaputtmachen. Nicht nur für sie. Für alle.«