»Weiß schon«, sagte Milly. »Es war dumm. Aber ich hab’s einfach nicht über mich gebracht, sie wegzuwerfen. Sie sind alles, was mir von der ganzen Sache geblieben ist.« Isobel seufzte und legte das Foto beiseite.
»Und du hast Simon nie davon erzählt?«
Mit fest zusammengepressten Lippen schüttelte Milly den Kopf.
»Tja, das musst du aber«, sagte Isobel. »Das ist dir doch wohl klar, oder?«
»Das geht nicht.« Milly schloss die Augen. »Ich kann es ihm nicht erzählen. Ich kann es einfach nicht.«
»Das wirst du aber müssen!«, ermahnte sie Isobel. »Ehe dieser Alexander beschließt, ihm alles zu stecken.«
»Vielleicht hält er ja den Mund«, meinte Milly kleinlaut.
»Vielleicht aber auch nicht!«, entgegnete Isobel. »Und dieses Risiko ist es nicht wert.« Isobel seufzte. »Hör mal, sag’s ihm einfach. Es wird ihm nichts ausmachen! Wer ist heutzutage nicht alles schon geschieden!«
»Mag ja sein«, sagte Milly.
»Deshalb braucht man sich nicht zu schämen! Dann bist du eben geschieden!« Sie zuckte die Achseln. »Es könnte schlimmer sein.«
»Aber ich bin’s nicht«, sagte Milly mit gepresster Stimme.
»Was?« Isobel sah sie mit großen Augen an.
»Ich bin nicht geschieden«, sagte Milly. »Ich bin immer noch verheiratet!«
Stille.
»Du bist immer noch verheiratet?«, flüsterte Isobel. »Du bist immer noch verheiratet? Aber Milly, am Samstag ist deine Hochzeit!«
»Ich weiß!«, weinte Milly. »Ja, meinst du etwa, das weiß ich nicht?« Und während Isobel sie entsetzt anstarrte, vergrub sie ihren Kopf in dem Kissen und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus.
Der Brandy war in der Küche. Isobel hoffte, dort niemanden anzutreffen, aber als sie die Tür öffnete, hob Olivia ihren Kopf vom Telefon.
»Isobel!«, sagte sie mit Bühnenflüstern. »Es ist etwas Schreckliches passiert!«
»Was denn?«, fragte Isobel, und ihr Herz schlug schneller.
»Wir haben nicht genügend Gottesdienstprogramme. Die Leute werden sich welche teilen müssen!«
»Oh!« Unvermittelt verspürte Isobel ein schreckliches Verlangen loszugackern. »Na, was soll’s!«
»Was soll’s?«, zischte Olivia. »Das ganze Ereignis wird schäbig wirken!« Als sie beobachtete, wie Isobel einen Brandy einschenkte, verengten sich ihre Augen. »Warum trinkst du Brandy?«
»Der ist für Milly«, erklärte Isobel. »Sie ist ein bisschen hippelig.«
»Ist denn alles in Ordnung?«
»Ja.« Isobel trat den Rückzug an. »Alles bestens.«
Sie begab sich zurück in Millys Zimmer, schloss die Tür hinter sich und klopfte Milly auf die Schulter.
»Trink das«, sagte sie. »Und beruhige dich. Alles wird gut.«
»Wie kann alles gut werden?«, schluchzte Milly. »Es wird alles ans Licht kommen! Alles wird ruiniert sein.«
»Ach, komm.« Isobel legte einen Arm um Millys Schulter. »Komm. Wir bringen das in Ordnung. Keine Bange.«
»Ich wüsste nicht, wie.« Milly sah mit verweintem Gesicht auf. Sie nippte an dem Brandy. »Gott, ich brauche eine Zigarette. Möchtest du auch eine?«
»Nein, danke.«
»Jetzt sei nicht so«, sagte Milly und schob mit zitternden Händen das Schiebefenster auf. »Von der einen Zigarette kriegst du schon keinen Lungenkrebs.«
»Nein«, erwiderte Isobel nach einer Pause. »Nein, ich schätze, eine Zigarette schadet nicht.« Sie setzte sich auf das Fensterbrett. Milly reichte ihr eine Zigarette, und beide inhalierten tief. Als der Rauch in ihre Lungen strömte, spürte Milly, wie ihr ganzer Körper sich langsam entspannte.
»Das hab ich gebraucht«, seufzte sie. Sie blies eine Wolke aus und wedelte den Rauch aus dem Fenster. »O Gott. Was für ein Schlamassel!«
»Was mir nicht eingeht«, bemerkte Isobel vorsichtig, »ist, warum du dich nicht hast scheiden lassen.«
»Wir hatten es ja immer vor«, sagte Milly und biss sich auf die Lippen. »Allan wollte das alles klären. Ich habe von seinem Anwalt sogar ein paar Unterlagen bekommen. Aber dann verlief alles im Sande, und ich habe nichts mehr von ihm gehört. Ich war nie vor Gericht, nichts.«
»Und du hast nie mal Dampf gemacht?«
Milly schwieg.
»Nicht mal, als Simon dir einen Heiratsantrag gemacht hat?« Isobels Stimme wurde schärfer. »Nicht mal, als ihr angefangen habt, die Hochzeit zu planen?«
»Ich hab nicht gewusst, wie! Allan hatte Oxford verlassen, ich wusste nicht, wo er steckte, ich hatte alle Unterlagen verloren …«
»Du hättest zu einem Anwalt gehen können, oder? Oder zu einer Beratungsstelle?«
»Schon klar.«
»Na also, warum …«
»Weil ich mich nicht getraut habe, okay? Ich wollte nicht unnötig Staub aufwirbeln.« Milly paffte an ihrer Zigarette. »Ich wusste doch, dass das, was ich getan habe, nicht ganz sauber war. Die Leute hätten anfangen können, nachzubohren und Fragen zu stellen. Das konnte ich nicht riskieren!«
»Aber, Milly …«
»Ich habe einfach nicht gewollt, dass es sonst noch jemand weiß. Kein Einziger sollte das. Solange habe ich mich … sicher gefühlt.«
»Sicher!«
»Ja, sicher!«, verteidigte sich Milly. »Keine einzige Menschenseele auf der Welt hat davon gewusst. Niemand hat irgendwelche Fragen gestellt; niemand hat irgendetwas geahnt.« Sie blickte Isobel in die Augen. »Ich meine, du doch auch nicht, oder?«
»Wohl nicht«, meinte Isobel widerstrebend.
»Natürlich nicht. Das hat keiner.« Zittrig zog Milly erneut an ihrer Zigarette. »Und je mehr Zeit verging, umso mehr kam es mir vor, als wäre das Ganze nie passiert. Ein paar Jahre vergingen, und immer wusste noch niemand davon, und allmählich … war es schon gar nicht mehr wahr.«
»Wie meinst du das, es war gar nicht mehr wahr?«, erkundigte sich Isobel ungeduldig. »Milly, du hast diesen Mann geheiratet! Das ist nun mal eine Tatsache!«
»Das waren drei Minuten im Standesamt«, erklärte Milly. »Eine kleine Unterschrift, vor zehn Jahren. Auf irgendeinem Dokument, das niemand je wieder zu sehen kriegt. Das ist doch keine Ehe, Isobel. Das ist ein Staubkörnchen, ein Nichts!«
»Und wie war das, als Simon dich gefragt hat, ob du seine Frau werden willst?«
Betretenes Schweigen.
»Ich habe überlegt, es ihm zu sagen«, sagte Milly schließlich. »Wirklich. Aber letztendlich habe ich einfach nicht eingesehen, warum. Mit uns hatte das nichts zu tun. Es hätte die Dinge einfach nur komplizierter gemacht. Er brauchte es nicht zu wissen.«
»Was hattest du also vor?«, fragte Isobel ungläubig. »Wolltest du Bigamie begehen?«
»Die erste Ehe war gar keine richtige Ehe.« Milly sah fort. »Sie hätte nicht gezählt.«
»Wie meinst du das?«, rief Isobel aus. »Natürlich hätte sie gezählt! Jesses, Milly, wie kann man nur so dumm sein! Manchmal fass ich es einfach nicht!«
»Oh, sei still, Isobel!«, rief Milly zornig.
»Gut. Ich halte den Mund.«
»Gut.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Milly rauchte ihre Zigarette zu Ende und drückte sie dann auf dem Fenstersims aus.
»Rauchst du deine denn gar nicht?«, fragte sie.
»Ich glaube, ich will den Rest nicht. Kannst sie haben.«
»Okay.« Milly nahm die halb heruntergebrannte Zigarette und warf dann, für einen Augenblick abgelenkt, der Schwester einen Blick zu. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie. »Mummy hat recht, du siehst schrecklich aus.«
»Mir geht’s gut«, erwiderte Isobel kurz.
»Du bist doch nicht etwa magersüchtig, oder?«
»Nein«, lachte Isobel. »Natürlich nicht.«
»Tja, du hast aber doch abgenommen …«
»Du auch.«