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Während die Frau ihn holen ging, wand Milly die Telefonschnur um die Finger und versuchte, gleichmäßig weiterzuatmen. Aus Angst vor einer Panikreaktion traute sie sich nicht, Isobel in die Augen zu sehen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit. Wie Rupert jetzt wohl aussah? Was er wohl zu ihr sagen würde? Leise hörte sie im Hintergrund Musik und stellte sich ihn vor, wie er auf dem Boden lag, einen Joint rauchte und sich Jazzmusik anhörte. Oder vielleicht saß er auf einem alten Samtstuhl, spielte Karten und trank Whisky. Vielleicht spielte er Karten mit Allan. Millys Herz klopfte schneller. Jeden Moment konnte Allan am anderen Ende der Leitung sein.

Plötzlich war die Frau wieder dran.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber Rupert ist augenblicklich sehr beschäftigt. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Milly. »Aber vielleicht könnte er mich zurückrufen?«

»Natürlich.«

»Die Nummer lautet 8 94 06 in Bath.«

»Okay, ich habe sie notiert.«

»Super«, sagte Milly. Sie blickte auf das Gekritzel auf ihrem Notizblock und verspürte eine Woge der Erleichterung. Sie hätte das vor Jahren tun sollen; es war einfacher als gedacht. »Sind Sie Ruperts Mitbewohnerin?«, setzte sie im Plauderton hinzu. »Oder nur eine Freundin?«

»Weder noch.« Die weibliche Stimme klang überrascht. »Ich bin Ruperts Frau.« 

6. Kapitel

Rupert Carr saß am Kamin seines Hauses in Fulham und zitterte vor Angst. Francesca legte mit einem merkwürdigen Blick den Hörer auf, und Rupert wurde es flau im Magen. Was hatte Milly seiner Frau gesagt? Was genau hatte sie ihr gesagt?

»Wer ist Milly?« Francesca nahm ihr Weinglas und nippte daran. »Und warum wolltest du nicht mit ihr sprechen?«

»Nur ein verrücktes M-mädchen, das ich mal gekannt habe«, erwiderte Rupert und verfluchte sich für sein Stottern. Er versuchte, lässig mit den Achseln zu zucken, aber seine Lippen bebten, und ihm wurde heiß. »Keine Ahnung, was sie will. Ich rufe sie morgen vom Büro aus an.« Er zwang sich aufzusehen und dem Blick seiner Frau standzuhalten. »Aber jetzt möchte ich weiter an meiner Lesung feilen.«

»Okay«, erwiderte sie lächelnd. Sie kam und setzte sich zu ihm aufs Sofa – eine schicke Couch von Colefax and Fowler, die sie von einem ihrer reicheren Onkel zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Gegenüber stand das passende Gegenstück, das die beiden selbst erstanden hatten, darauf saßen Charlie und Sue Smith-Halliwell, ihre engsten Freunde. Die vier genossen noch schnell ein Glas Wein, ehe sie sich zum Abendgottesdienst in der St. Catherine’s Church aufmachten, bei der Rupert eine Lesung halten würde. Jetzt mied er ihren Blick und starrte auf seine Bibel. Aber die Worte verschwammen vor seinen Augen; seine Finger klebten schweißnass an den Seiten.

»Entschuldige, Charlie«, sagte Francesca. Sie griff hinter sich und drehte den Gesang Kiri te Kanawas geringfügig hinunter. »Was hast du gesagt?«

»Nichts sonderlich Tiefsinniges«, sagte Charlie und lachte. »Ich finde einfach, dass es an Leuten wie uns ist« – er machte eine Geste, die sie vier umfasste –, »junge Familien zum Kirchgang zu ermutigen.«

»Anstatt ihre Sonntagvormittage beim Homestore zu verbringen«, sagte Francesca und runzelte dann die Stirn. »Meine ich Homestore?«

»Schließlich«, sagte Charlie, »sind Familien das Kernstück der Gesellschaft.«

»Ja, aber Charlie, das ist es ja eben, sie sind es nicht!«, rief Sue sofort, und zwar auf eine Art, die darauf schließen ließ, dass der Streit nicht neu war. »Familien sind passé! Heutzutage gibt es doch nur noch Alleinerziehende und Lesbierinnen …«

»Habt ihr schon von der neuen Schwulenversion des Neuen Testaments gehört?«, warf Francesca ein. »Ich war ganz schön schockiert, das muss ich schon sagen.«

»Da kann einem wirklich übel werden.« Charlie umklammerte sein Weinglas fester. »Diese Typen sind doch Ungeheuer.«

»Ja, aber man kann sie nicht ignorieren«, warf Sue ein. »Oder? Man kann einen ganzen Gesellschaftsteil nicht einfach übergehen. Egal, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen. Was meinst du dazu, Rupert?«

Rupert sah auf. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Tut mir leid«, brachte er heraus. »Ich habe gerade nicht zugehört.«

»Oh, entschuldige. Du möchtest dich konzentrieren, stimmt’s?« Sue grinste ihn an. »Du machst das schon. Und ist es nicht lustig, dass du nie stotterst, wenn du eine Lesung hältst?«

»Ich würde sagen, kaum einer hält so gute Lesungen in der Kirche wie du, Rupe«, lobte Charlie ihn fröhlich. »Muss an deiner Universitätsausbildung liegen. In Sandhurst haben wir nicht viel Spracherziehung erhalten.«

»Das ist keine Entschuldigung!«, bemerkte Sue. »Gott hat uns alle mit Mund und Hirn bedacht, nicht wahr? Welchen Bibeltext liest du denn?«

»Matthäus, 26«, erwiderte Rupert. »Die Verleugnung des Petrus.« Es entstand eine kurze Stille.

»Petrus«, echote Charlie ernst. »Wie mag es wohl gewesen sein, Petrus zu sein?«

»Nicht!«, bat Francesca und erschauerte. »Wenn ich daran denke, wie knapp ich daran war, meinen Glauben völlig zu verlieren …«

»Schon, aber du hast Jesus nie verleugnet, oder?«, warf Sue ein. Sie ergriff Francescas Hand. »Selbst am Tag danach, als ich dich im Krankenhaus besucht habe.«

»Ich war so zornig«, sagte Francesca. »Und beschämt. Es kam mir vor, als hätte ich das Kind irgendwie nicht verdient.«

»Aber das tust du«, sagte Charlie. »Ihr beide verdient es. Und ihr bekommt eins. Denkt dran, Gott steht euch zur Seite.«

Doch Gott stand ihm nicht zur Seite. Das wusste er. Als sie das Haus verließen und sich zur St. Catherine’s Church aufmachten, blieb Rupert nach zehn Minuten auf einem kleinen Platz in Chelsea hinter den anderen zurück. Am liebsten hätte er den Anschluss ganz verloren. Er wollte übersehen werden, vergessen. Aber das war unmöglich. Niemand in der St. Catherine’s Church wurde je vergessen. Jeder, der sich durch ihre Portale wagte, gehörte umgehend zur Familie. Die meisten der zufälligen Besucher wurden mit lächelndem Enthusiasmus begrüßt, es wurde ihnen das Gefühl vermittelt, bedeutend zu sein und geliebt zu werden, sie wurden ermahnt wiederzukommen. Die meisten taten es. Diejenigen, die nicht wieder erschienen, wurden fröhlich angerufen – »Wollte nur wissen, ob es dir gut geht. Weißt du, du liegst uns am Herzen. Wirklich.« Skeptiker wurden fast noch begeisterter begrüßt als Gläubige. Sie wurden ermutigt, aufzustehen und ihre Vorbehalte zu äußern; je überzeugender ihre Argumente, umso breiter das Lächeln ringsum. Die Mitglieder der St. Catherine’s lächelten eine Menge. Sie trugen ihr Glück sichtbar zur Schau; sie wandelten mit einem leuchtenden Heiligenschein der Gewissheit umher.

Eben diese Gewissheit hatte Rupert an der St. Catherine’s Church so angezogen. Während seiner ersten Jahre als Anwalt, in denen er von Selbstzweifeln geplagt worden war, hatte er Tom Innes kennen gelernt, der ebenfalls als Rechtsanwalt am Obergericht arbeitete. Tom war freundlich und kontaktfreudig. Er hatte sich um die St. Catherine’s Church herum ein sicheres gesellschaftliches Leben aufgebaut. Er hatte für alles eine Antwort parat – und wenn nicht, dann wusste er, wo er nachschauen musste. Er war der glücklichste Mensch, den Rupert je kennen gelernt hatte. Und Rupert, der damals überzeugt war, nie mehr glücklich werden zu können, war mit einem fast verzweifelten Eifer in Toms Leben getreten, in das Christentum, in die Ehe. Nun besaß sein Leben ein geregeltes Muster, eine Bedeutung, die er genoss. Seit drei zufriedenen Jahren war er mit Francesca verheiratet, sein Haus war gemütlich, beruflich ging es voran.

Niemand wusste von seinem Vorleben. Von Allan. Er hatte niemandem etwas davon erzählt. Nicht Francesca, nicht Tom, nicht dem Pfarrer. Nein, nicht einmal Gott.