Isobel schwieg, und Milly sah sie trotzig an. »Du meinst wohl, ich sollte es ihm auf jeden Fall sagen? Du denkst wohl, man kann vor jemandem, den man liebt, keine Geheimnisse haben?«
»Nein«, erwiderte Isobel, »tue ich nicht.« Milly schaute sie überrascht an. Isobel hatte den Blick abgewandt, sie hielt das Steuer fest umklammert. »Man kann locker jemanden lieben und etwas vor ihm geheim halten.«
»Aber …«
»Wenn es etwas ist, was ihn unnötig belasten würde. Wenn es etwas ist, das er nicht zu wissen braucht.« Isobels Stimme wurde etwas barscher. »Manches behält man am besten für sich.«
»Wie zum Beispiel?« Milly sah Isobel erstaunt an. »Wovon sprichst du?«
»Von nichts.«
»Hast du etwa ein Geheimnis?«
Isobel schwieg. Eine Weile starrte Milly ihre Schwester prüfend an, versuchte, ihren Ausdruck zu deuten. Dann kam es ihr plötzlich. Wie ein Blitz traf sie die entsetzliche Erkenntnis.
»Du bist krank, stimmt’s?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Herrgott, jetzt wird mir alles klar! Deshalb bist du so blass. Du leidest an irgendetwas Schrecklichem – und willst es uns bloß nicht sagen!« Millys Stimme hob sich. »Du glaubst, es ist das Beste, es uns zu verschweigen! Was, bis du stirbst?«
»Milly!«, rief Isobel mit schneidender Stimme. »Ich sterbe nicht. Und ich bin nicht krank!«
»Aber was hast du dann für ein Geheimnis?«
»Ich habe nie behauptet, eines zu haben. Das war reine Theorie.« Isobel bog auf den Bahnhofsparkplatz ein. »So, da wären wir.« Sie machte die Wagentür auf und stieg ohne einen Blick zu ihrer Schwester aus.
Widerwillig folgte ihr Milly. Als sie in die Bahnhofshalle gelangten, fuhr ein Zug von einem der Bahnsteige ab, und ein Schwarm angekommener Reisender tauchte auf. Unbekümmerte, glückliche Menschen mit Taschen, die ihren Freunden zuwinkten. Menschen, die das Wort »Hochzeit« mit Glück und Feiern verbanden.
»O Gott«, sagte sie, als sie Isobel eingeholt hatte. »Ich möchte nicht fahren. Ich möchte es nicht herausfinden. Ich möchte es vergessen.«
»Du musst fahren. Du hast gar keine andere Wahl.« Plötzlich verfärbte sich Isobels Gesicht. »Kauf dir schon mal deine Fahrkarte«, sagte sie keuchend. »Bin gleich zurück.« Und zu Millys Erstaunen rannte sie in Richtung Damentoilette. Milly starrte ihr eine Weile nach, dann wandte sie sich um.
»Einmal nach London und zurück, bitte«, bat sie die Frau am Schalter. Was in aller Welt war mit Isobel los? Sie war nicht krank, aber es war auch nicht alles normal. Schwanger sein konnte sie nicht – sie hatte keinen Freund.
»Gut«, meinte Isobel, als sie wieder an Millys Seite erschien. »Hast du alles?«
»Du bist schwanger!«, zischte Milly. »Stimmt’s?« Isobel wich zurück. Sie sah aus, als hätte Milly ihr eine Ohrfeige versetzt.
»Nein«, sagte sie.
»Ach, komm, bist du doch. Das ist doch offensichtlich!«
»Der Zug fährt in einer Minute ab«, sagte Isobel mit dem Blick auf ihre Uhr. »Du verpasst ihn noch.«
»Du bist schwanger, und du hast mir nichts davon erzählt! Verdammt, Isobel, du hättest es mir erzählen müssen. Ich werde Tante!«
»Nein«, versetzte Isobel knapp. »Wirst du nicht.«
Milly schaute sie verständnislos an. Dann begriff sie schlagartig, was Isobel damit meinte.
»Nein! Das kannst du nicht tun! Das kannst du nicht! Isobel, das ist doch nicht dein Ernst?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht, okay?« Isobels Stimme hob sich gefährlich. Sie machte ein paar Schritte auf Milly zu, rang die Hände und ging dann wieder ein paar Schritte zurück, wie ein Tier im Käfig.
»Isobel …«
»Du musst zu deinem Zug«, sagte Isobel. »Ab mit dir.« Sie sah Milly mit glänzenden Augen an. »Na, los!«
»Ich nehme einen späteren«, erwiderte Milly.
»Nein. Die Zeit hast du nicht. Jetzt geh schon!«
Ein paar Sekunden blickte Milly ihre Schwester wortlos an. Noch nie hatte sie Isobel verletzlich wirken sehen; es bereitete ihr Unbehagen.
»Okay«, sagte sie. »Ich gehe.«
»Viel Glück!«, wünschte ihr Isobel.
»Und wir sprechen da… darüber – wenn ich zurückkomme.«
»Vielleicht«, sagte Isobel. Als Milly sich nach ein paar Schritten noch einmal umsah, war sie bereits verschwunden.
Bei Isobels Rückkehr wartete Olivia schon in der Küche auf sie.
»Wo ist Milly?«
»Sie ist für einen Tag nach London gefahren.«
»Nach London? Warum das denn?«
»Um ein Geschenk für Simon zu besorgen.« Isobel griff nach der Keksdose. Olivia starrte sie an.
»Wie bitte? Und fährt deshalb bis nach London? Als ob sie in Bath nicht auch was Schönes für ihn bekäme!«
»Ihr war halt danach, nach London zu fahren«, entgegnete Isobel und riss eine Kekspackung auf. »Ist das denn wichtig?«
»Ja«, meinte Olivia verärgert. »Natürlich ist das wichtig! Weißt du, was für einen Tag wir heute haben?«
»Ja.« Isobel biss mit Genuss in einen Keks. »Donnerstag.«
»Genau. Nur noch zwei Tage! Ich habe tausend Dinge zu erledigen, und Milly sollte mir eigentlich dabei helfen. So was Gedankenloses!«
»Gönn ihr die Entspannung doch!«, meinte Isobel. »Ihr geht jetzt bestimmt viel im Kopf herum.«
»Mir auch, Schatz! Ich muss noch zusätzliche Gottesdienstprogramme organisieren, noch mal alle Stationen der Feier überprüfen – und zu allem Überfluss ist gerade das Zelt eingetroffen. Wer sieht es sich mit mir an?«
Schweigen.
»Oh, Gott«, sagte Isobel schließlich und stopfte sich noch einen Keks in den Mund. »Ich komm ja schon.«
Simon und Harry gingen die Parham Place entlang – eine breite Straße, elegant und teuer, und zu dieser Tageszeit belebt, da ihre Bewohner, allesamt in gehobenen Positionen, sich zur Arbeit aufmachten. Eine hübsche Brünette, die gerade in ihr Auto einstieg, lächelte Simon zu; drei Türen weiter saß ein Trupp Bauarbeiter auf der Eingangstreppe und trank dampfenden Tee.
»Da wären wir.« Harry blieb bei einer Steintreppe stehen, die zu einer glänzend blauen Tür hinaufführte. »Hast du die Schlüssel?«
Wortlos erklomm Simon die Treppe und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er betrat eine geräumige Halle und öffnete zu seiner Linken eine weitere Tür.
»Na, komm«, sagte Harry. »Rein mit dir.«
Beim Eintreten erinnerte sich Simon sofort daran, warum Milly und er sich in die Wohnung verliebt hatten. Er war umgeben von viel freiem Raum, von weißen Wänden, hohen Decken und riesigen Parkettflächen. Nichts, was sie sonst noch angeschaut hatten, war auch nur annähernd daran herangekommen. Und nichts war so sündhaft teuer gewesen.
»Gefällt sie dir?«, wollte Harry wissen.
»Sie ist toll.« Simon schlenderte zu einem Kamin und fuhr mit der Hand darüber. »Sie ist toll«, wiederholte er. Mehr traute er sich nicht zu sagen. Die Wohnung war mehr als toll. Sie war schön, vollkommen. Milly wäre völlig hingerissen. Doch als er so dastand und sich umsah, verspürte er lediglich einen Stich in der Brust.
»Nette hohe Wände«, meinte Harry. Er öffnete einen leeren, vertäfelten Schrank, blickte hinein und schloss ihn wieder. Als er zum Fenster schlenderte, echoten seine Schritte auf dem bloßen Boden. »Nette Holzläden.« Er klopfte prüfend auf einen.
»Die Läden sind toll«, sagte Simon. Alles war toll. Er konnte keinen einzigen Makel entdecken.
»Du wirst dir anständiges Mobiliar anschaffen müssen.« Harry sah Simon an. »Brauchst du dabei Hilfe?«
»Nein«, erwiderte Simon. »Danke.«
»Na, ich hoffe jedenfalls, dass sie dir gefällt.« Harry zuckte leicht mit den Achseln.
»Die Wohnung ist wunderschön«, sagte Simon steif. »Milly wird begeistert sein.«
»Gut«, meinte Harry. »Wo steckt sie denn heute?«
»In London. Auf irgendeiner geheimnisvollen Mission. Ich glaube, sie kauft ein Geschenk für mich.«