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Eine halbe Stunde stand sie einfach nur da, ohne sich um die Menschen um sie herum zu kümmern, Frauen, die ihr neugierige Blicke zuwarfen, Männer, die versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Sie ignorierte sie allesamt. Als sich ein leises Hunger- und Übelkeitsgefühl einstellte, schob sie ihr Glas weg, nahm ihre Tasche und verließ den Pub. Leicht schwankend stand sie auf der Straße und fragte sich, wohin nun. Es war Mittagszeit, und auf dem Bürgersteig wimmelte es von Leuten, die vorbeieilten, Taxis herbeiwinkten, in Geschäfte, Pubs und Sandwich-Bars einfielen. In der Ferne erklang Glockengeläut, und ihr schossen Tränen in die Augen. Was sollte sie bloß tun? Lieber gar nicht dran denken.

Sie starrte auf die Menschenmassen und wünschte sich von ganzem Herzen, sie wäre eine von ihnen. Gern wäre sie das fröhlich wirkende Mädchen gewesen, das ein Croissant aß, oder jene gelassene Dame, die in den Bus stieg, oder …

Plötzlich erstarrte Milly. Sie blinzelte ein paarmal, wischte sich die Tränen fort und schaute erneut. Aber das Gesicht, das sie entdeckt hatte, war bereits verschwunden, verschluckt von der wogenden Menschenmenge. Voller Panik eilte sie vorwärts und spähte um sich herum. Einige Augenblicke sah sie nichts als Fremde, Mädchen in bunten Mänteln, Männer in dunklen Anzügen, Anwälte, die noch immer ihre Perücken trugen. Sie drängten sich an ihr vorbei, und sie bahnte sich ungeduldig ihren Weg hindurch. Fieberhaft sagte sie sich, sie müsse sich geirrt haben. Sie müsse jemand anderen gesehen haben. Aber dann setzte ihr Herz einen Schlag aus. Dort war er wieder, ging auf der anderen Straßenseite und unterhielt sich mit einem Mann. Er wirkte älter, als sie ihn in Erinnerung hatte, und dicker. Aber er war es eindeutig: Rupert.

Bei seinem Anblick erfasste Milly eine Woge glühenden Hasses. Wie konnte er es wagen, so glücklich und gelöst durch die Straßen Londons zu schlendern? Wie konnte er es wagen, nicht zu wissen, was sie alles durchmachte? Seinetwegen war ihr Leben in Auflösung begriffen. Seinet- und Allans wegen. Und er hatte keine Ahnung davon.

Mit hämmerndem Herzen begann sie, auf ihn zuzulaufen, überquerte die Straße, ohne sich um das Hupen ärgerlicher Taxifahrer und die neugierigen Blicke der Passanten zu kümmern. Binnen kurzem hatte sie die beiden Männer eingeholt. Sie schritt hinter ihnen einher, starrte einen Augenblick voller Abscheu auf Ruperts goldenen Kopf und stieß ihn dann fest in den Rücken.

»Rupert«, sagte sie. »Rupert!« Er drehte sich um und sah sie mit freundlichen Augen an, ohne sie zu erkennen.

»Verzeihung«, sagte er. »Kenne ich …«

»Ich bin’s«, sagte Milly so kalt und bitter wie möglich. »Ich bin’s. Milly. Aus Oxford.«

»Was?« Aus Ruperts Gesicht wich jegliche Farbe. Er machte einen Schritt zurück.

»Ja, richtig«, sagte Milly. »Ich bin’s. Ich schätze, du hast nicht gedacht, dass du mich je wiedersehen würdest, was, Rupert? Du hast gedacht, ich wäre für immer aus deinem Leben verschwunden.«

»Sei nicht albern!«, sagte Rupert in scherzhaftem Ton. Er warf einen unbehaglichen Blick zu seinem Freund. »Wie geht’s dir überhaupt?«

»Es könnte nicht schlechter gehen, danke der Nachfrage«, entgegnete Milly. »Oh, und danke, dass du gestern Abend zurückgerufen hast. Das weiß ich wirklich zu schätzen!«

»Ich hatte keine Zeit«, erwiderte Rupert. Er warf ihr einen hasserfüllten Blick aus seinen blauen Augen zu, und Milly funkelte zurück. »Und nun habe ich leider zu tun.« Er wandte sich an seinen Freund. »Gehen wir, Tom?«

»Wag es bloß nicht!«, zischte Milly zornig. »Du gehst nirgendwo hin! Du wirst mir zuhören!«

»Ich habe keine Zeit …«

»Dann schaff dir die Zeit!«, brüllte Milly. »Mein Leben ist zerstört, und das ist alles deine Schuld! Du und dieser verfluchte Allan Kepinski! Herrgott! Ist dir klar, was ihr beide mir angetan habt! Ist dir klar, in welchen Schwierigkeiten ich euretwegen stecke?«

»Rupert«, sagte Tom. »Vielleicht solltet ihr beide euch doch mal ein wenig unterhalten?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon sie eigentlich redet«, erwiderte Rupert wütend. »Sie ist verrückt!«

»Ein Grund mehr«, raunte Tom Rupert zu. »Hier steht eine wahrhaft Not leidende Seele vor dir. Und vielleicht kannst du ihr helfen.« Er lächelte Milly zu. »Sind Sie eine alte Freundin von Rupert?«

»Ja«, erwiderte Milly kurz angebunden. »Wir kennen uns aus Oxford. Stimmt’s nicht, Rupert?«

»Also, hör mal«, meinte Tom. »Warum übernehme ich nicht deine Lesung? Und du unterhältst dich mit Milly?« Er lächelte sie an. »Vielleicht könnten Sie das nächste Mal auch mitkommen.«

»Ja«, erwiderte Milly, die keine Ahnung hatte, wovon er sprach. »Warum nicht!«

»Schön, Sie kennen gelernt zu haben, Milly!«, sagte Tom und ergriff Millys Hand. »Vielleicht sehen wir Sie in der St. Catherine’s Church.«

»Ja«, sagte Milly. »Das nehme ich an.«

»Ausgezeichnet! Ich rufe dich dann an, Rupert«, sagte er, und schon war er fort und auf der anderen Straßenseite.

Milly und Rupert sahen einander an.

»Du Miststück!«, zischte Rupert. »Legst du es darauf an, mein Leben zu zerstören?«

»Dein Leben zu zerstören?«, rief Milly ungläubig. »Dein Leben zu zerstören? Ist dir klar, was du mir angetan hast? Du hast mich benutzt!«

»Du hast es so gewollt«, versetzte Rupert brüsk und schickte sich zum Gehen an. »Wenn du es nicht gewollt hast, warum hast du dann nicht Nein gesagt?«

»Ich war achtzehn!«, kreischte Milly. »Ich hatte doch von nichts eine Ahnung! Ich wusste nicht, dass ich eines Tages einen anderen heiraten wollen würde, einen, den ich wirklich liebe …«

»Na und?«, sagte Rupert knapp und drehte sich wieder zu ihr um. »Du hast deine Scheidung doch bekommen, oder?«

»Nein«, schluchzte Milly. »Eben nicht! Und ich weiß nicht, wo Allan steckt! Und dabei heirate ich am Samstag!«

»Tja, und was soll ich da nun bitte machen?«

»Ich muss Allan finden! Wo wohnt er jetzt? Sag es mir!«

»Ich weiß es nicht«, sagte Rupert und wollte sich abermals entfernen. »Ich kann dir nicht helfen. Und jetzt lass mich zufrieden.« Milly starrte ihn an, und Wut stieg in ihr hoch wie heiße Lava.

»Du kannst nicht einfach gehen!«, kreischte sie. »Du musst mir helfen!« Sie begann hinter ihm herzurennen; er beschleunigte den Schritt. »Du musst mir helfen, Rupert!« Unter großer Anstrengung packte sie ihn an seinem Jackett und schaffte es, ihn zum Stehenbleiben zu zwingen.

»Lass mich los!«, zischte Rupert.

»Hör zu«, sagte Milly grimmig und funkelte ihn an. »Ich habe dir und Allan einen Gefallen getan. Und nun ist es an der Zeit, dass du dich auch mal ein klein wenig erkenntlich zeigst. Das bist du mir schuldig.«

Sie sah ihn fest an, beobachtete, wie er nachdachte; beobachtete, wie sich sein Gesichtsausdruck langsam veränderte. Schließlich seufzte er und rieb sich die Stirn.

»Okay«, sagte er. »Komm mit. Wir reden besser miteinander.« 

8. Kapitel

Sie gingen in ein altes, verwinkeltes Pub in der Fleet Street, das mit dunklem Holz vertäfelt war. Rupert besorgte eine Flasche Wein und zwei Teller mit Brot und Käse, und dann setzten sie sich an einen winzigen Tisch in einem Alkoven. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, trank einen großen Schluck Wein und lehnte sich zurück. Milly betrachtete ihn. Ihr Zorn war ein wenig verraucht, und sie konnte ihn nun in Ruhe mustern. Und etwas, fand sie, stimmte nicht. Er sah noch immer verblüffend gut aus – aber sein Gesicht war geröteter und fleischiger als in Oxford, und seine Hand bebte, als er sein Weinglas abstellte. Vor zehn Jahren, dachte sie, war er ein strahlender junger Mann. Nun wirkte er plötzlich erheblich älter, als er tatsächlich war. Und als er ihrem Blick begegnete, da sah sie in seinen Augen eine Traurigkeit, die dort einen festen Platz zu haben schien.