Lange Zeit herrschte Stille, dann meldete sich eine weitere männliche Stimme.
»Sie wollten mit Allan sprechen?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«
»Ich heiße Rupert.«
»Rupert Carr?«
»Ja.« Rupert umklammerte den Hörer noch fester. »Ist Allan da?«
»Allan hat das St. David’s House vor fünf Jahren verlassen«, erklärte der junge Mann. »Er ist in die Staaten zurückgegangen.«
»Oh.« Rupert starrte verdutzt auf das Telefon. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Allan zurück in den Staaten sein könnte.
»Rupert, sind Sie in London?«, fragte der junge Mann. »Könnten wir uns möglicherweise morgen treffen? Allan hat Ihnen einen Brief hinterlegt.«
»Wirklich? Für mich?« Sein Herz machte einen Sprung. Es war noch nicht zu spät. Allan wollte ihn noch immer. Er würde ihn anrufen, notfalls würde er in die Staaten fliegen. Und dann …
Ein Geräusch an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Tom stand im Türrahmen und beobachtete ihn. Rupert errötete.
»Im Mangetout in der Drury Lane. Um zwölf«, sagte der junge Mann gerade. »Ich werde eine schwarze Jeans tragen. Ach, und übrigens, ich heiße Martin.«
»Okay«, sagte Rupert eilig. »Bye, Martin.«
Er legte auf und blickte verlegen zu Tom.
»Wer ist Martin?«, erkundigte Tom sich freundlich. »Ein Freund von dir?«
»Geh«, bat Rupert. »Lass mich in Ruhe.«
»Ich war bei Francesca. Sie ist völlig aufgelöst. Wie du dir vorstellen kannst.« Tom setzte sich ungeniert auf Ruperts Schreibtisch und ergriff einen Briefbeschwerer aus Messing. »Dein kleiner Ausbruch hat sie ziemlich aus der Fassung gebracht.«
»Im Gegensatz zu dir«, versetzte Rupert aggressiv.
»Stimmt«, sagte Tom, »mir ist diese Art der Verwirrung schon früher untergekommen.« Er lächelte Rupert an. »Du bist nicht allein. Ich bin bei dir. Francesca ist bereit, dir beizustehen. Wir alle werden dir helfen.«
»Helfen, wobei? Zu bereuen? Öffentlich zu beichten?«
»Ich verstehe deinen Zorn«, sagte Tom. »Es ist eine Form der Scham.«
»Von wegen! Ich schäme mich nicht!«
»Was immer du in der Vergangenheit getan hast, du kannst reingewaschen werden.«
Rupert starrte Tom an. Sein Haus kam ihm in den Sinn, sein Leben mit Francesca, sein bequemes, glückliches Dasein. Alles, was er zurückhaben konnte, wenn er in einem Punkt log.
»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann einfach nicht. Ich bin nicht der, für den ihr mich alle haltet. Ich war in einen Mann verliebt. Weder war ich fehlgeleitet, noch wurde ich verleitet. Ich war verliebt.«
»Platonische Liebe …«
»Keine platonische Liebe!«, rief Rupert. »Sexuelle Liebe! Kannst du das nicht verstehen, Tom? Ich habe einen Mann sexuell geliebt.«
»Du hast den Akt mit ihm vollzogen.«
»Ja.«
»Akte, die, wie du weißt, dem Herrn zuwider sind.«
»Wir haben niemandem geschadet!«, schrie Rupert verzweifelt. »Wir haben nichts Unrechtes getan!«
»Rupert!«, rief Tom aus und erhob sich. »Was redest du da? Natürlich hast du dir geschadet. Du hast dir selbst den größten Schaden zugefügt. Du hast die vielleicht abscheulichste Sünde begangen, die der Menschheit bekannt ist! Du kannst dich reinwaschen – aber nur, wenn du bereust. Nur wenn du zugibst, welche Sünde du begangen hast.«
»Das war keine Sünde«, protestierte Rupert mit bebender Stimme. »Das war schön.«
»In den Augen des Herrn«, sagte Tom kalt, »war es widerlich. Widerlich!«
»Es war Liebe!«, schrie Rupert. Er stand auf, sodass er sich mit Tom in derselben Augenhöhe befand. »Kannst du das nicht verstehen?«
»Nein«, schnauzte Tom. »Ich fürchte, das kann ich nicht.«
»Du kannst nicht verstehen, dass zwei Männer sich möglicherweise lieben können?«
»Nein.«
Langsam beugte Rupert sich vor. Einige seiner Haarsträhnen berührten Toms Stirn.
»Stößt dich der Gedanke wirklich ab?«, flüsterte er. »Oder hast du nur Angst davor?«
Wie von der Tarantel gestochen, machte Tom einen Satz zurück.
»Komm mir nicht zu nahe!«, brüllte er, das Gesicht vor Abscheu verzogen.
»Keine Bange. Ich gehe.«
»Wohin?«
»Interessiert dich das, Tom? Interessiert dich das wirklich?«
Stille. Zitternd nahm Rupert seine Unterlagen und stopfte sie in seine Aktentasche. Tom beobachtete ihn, ohne sich zu rühren.
»Du weißt, dass du verdammt bist«, sagte er, während Rupert sich seinen Mantel nahm. »Die Verdammnis ist dir sicher.«
»Ich weiß.« Und ohne sich noch einmal umzusehen, öffnete Rupert die Tür und ging hinaus.
12. Kapitel
Isobel wachte mit dröhnenden Kopfschmerzen und Übelkeitsgefühlen auf. Sie blieb regungslos liegen, bemüht, die Übelkeit kraft ihres Willens zu überwinden – bis ein plötzlicher Drang, sich zu übergeben, sie aus ihrem Bett, aus ihrem Zimmer, durch die Diele und ins Badezimmer trieb.
»Es ist ein Kater«, erklärte sie dem Badezimmerspiegel. Aber ihr Spiegelbild blickte skeptisch drein. Sie spülte sich den Mund aus, setzte sich auf den Badewannenrand und stützte den Kopf auf die Hand. Wieder einen Tag älter. Einen Tag weiter entwickelt. Vielleicht hatte es inzwischen schon Gesichtszüge. Vielleicht hatte es kleine Hände, kleine Zehen. Es war ein Junge. Oder ein Mädchen. Eine kleine Person. Die in ihr wuchs, sich auf das Leben freute.
Eine weitere Welle von Übelkeit erfasste sie, und sie hielt sich die Hand vor den Mund. Diese Unschlüssigkeit machte sie krank. Sie kam einfach zu keiner Entscheidung, konnte nicht einen klaren Gedanken fassen. Die Vernunft rang mit Bedürfnissen, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte, mit jedem Tag schien ihr Denkvermögen ein wenig nachzulassen. Das Offensichtliche schien nun weniger offensichtlich, die logischen Ansichten, die sie einst bereitwillig vertreten hatte, schienen in einem Meer törichter Empfindungen unterzugehen.
Schwankend stand sie auf und ging langsam auf den Gang hinaus. In der Küche hörte sie Rumoren, und sie beschloss, hinunterzugehen und sich eine Tasse Tee zu machen. Als sie hereinkam, stand James in seiner Arbeitskluft am Aga und las die Zeitung.
»Guten Morgen!«, grüßte er sie. »Na, eine Tasse Tee?«
»Furchtbar gern.« Isobel setzte sich an den Tisch und musterte ihre Finger. James stellte einen Becher vor sie hin, sie nippte daran und runzelte dann die Stirn. »Ich glaube, da muss Zucker rein.«
»Aber du nimmst doch nie Zucker«, meinte James verdutzt.
»Nein«, sagte Isobel. »Aber jetzt vielleicht schon.« Sie rührte zwei Löffel Zucker in ihren Tee und schlürfte ihn genüsslich.
»Nun«, sagte James. »Milly hatte also recht.«
»Ja.« Isobel starrte in ihren Becher. »Milly hatte recht.«
»Und der Vater?«
Isobel schwieg.
»Verstehe.« James räusperte sich. »Hast du schon beschlossen, was du tun wirst? Ich nehme an, du stehst noch ganz am Anfang.«
»Ja. Und nein, ich bin noch zu keinem Entschluss gekommen.« Isobel blickte auf. »Ich nehme an, du denkst, ich sollte es loswerden, nicht? Vergessen, dass es je geschehen ist, und meine glänzende Karriere weiterverfolgen.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte James nach einer Pause. »Außer …«
»Meine aufregende Karriere«, sagte Isobel bitter. »Mein wunderbares Leben in Flugzeugen, Hotelzimmern und mit fremden Geschäftsmännern, die versuchen, mich anzumachen, weil ich immer allein bin.« James sah sie mit großen Augen an.
»Genießt du deine Arbeit nicht? Ich habe gedacht – wie wir alle –, sie macht dir Spaß?«
»Macht sie ja auch. Meistens jedenfalls. Aber manchmal fühle ich mich einsam, und manchmal habe ich es satt, und manchmal würde ich am liebsten alles für immer hinschmeißen. So wie die meisten Menschen.« Sie nippte an ihrem Tee. »Manchmal wünsch ich mir, ich würde heiraten, drei Kinder bekommen und schließlich als Geschiedene ein glückliches Dasein führen.«