Harry starrte ihn schweigend an.
»Das ist alles?«, fragte er schließlich. »Ist das der einzige Grund, warum alles abgesagt ist? Weil Milly vor zehn Jahren irgendeinen ausgekochten Burschen geheiratet hat?«
»Ja, reicht das denn nicht?«
»Natürlich nicht!« Harry geriet in Rage. »Das reicht nicht annähernd! Ich dachte, zwischen euch gäbe es echte Probleme.«
»Aber so ist es doch auch! Sie hat mich angelogen!«
»So, wie du reagierst, wundert mich das nicht!«
»Ja, wie soll ich denn reagieren?«, entrüstete sich Simon. »Vertrauen war doch die Basis unserer Beziehung. Jetzt kann ich ihr nicht mehr vertrauen.« Er schloss die Augen. »Es ist aus.«
»Simon, für wen hältst du dich, verflucht noch mal?«, rief Harry. »Für den Erzbischof von Canterbury? Warum ist es so wichtig, dass sie dich angelogen hat? Sie hat dir doch jetzt die Wahrheit gesagt, oder?«
»Bloß, weil sie musste.«
»Na und?«
»Davor war alles perfekt!«, brüllte Simon verzweifelt. »Alles war perfekt! Und nun ist es kaputt!«
»Ach, reiß dich zusammen!«, donnerte Harry. Simon riss schockiert den Kopf hoch. »Und benimm dich einmal in deinem Leben nicht wie ein maßlos verzogenes Bürschchen! Jetzt ist deine perfekte Beziehung also nicht so perfekt, wie du gedacht hast. Na und? Heißt das, dass du sie deshalb wegschmeißen musst?«
»Das verstehst du nicht.«
»Ich verstehe vollkommen. Du willst dich in deiner vollkommenen Ehe sonnen, mit deiner vollkommenen Frau und deinen vollkommenen Kindern, und dich vor dem Rest der Welt damit brüsten. Stimmt’s nicht? Und nun, da du einen Makel entdeckt hast, erträgst du es nicht. Da wird dir aber gar nichts anderes übrig bleiben, Simon! Die Welt ist nämlich voller Mängel. Und, um ehrlich zu sein, viel besser als das, was du mit Milly hattest, wird’s nicht.«
»Und was, zum Teufel, weißt du schon davon?«, brauste Simon auf. Er stand auf. »Was weißt du schon von glücklichen Beziehungen? Warum sollte ich auch nur ein einziges Wort von dir ernst nehmen?«
»Weil ich dein Vater bin, verflucht noch mal!«
»Ja«, erwiderte Simon bitter. »Als ob mir das nicht nur zu klar wäre.« Er stieß seinen Stuhl zurück, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Raum. Harry sah ihm nach und fluchte leise.
Um neun Uhr klingelte es. Isobel, die gerade in die Küche hinuntergekommen war, zog eine Grimasse. Sie trottete zur Haustür und öffnete. Ein großer weißer Lieferwagen parkte vor dem Haus, und ein Mann stand vor der Tür, umgeben von weißen Schachteln.
»Die Lieferung des Hochzeitskuchens«, verkündete er. »Auf den Namen Havill.«
»O Gott!« Isobel starrte auf die Schachteln. »O Gott!« Sie ging in die Knie, lüpfte einen der Deckel und erhaschte einen Blick von einer glatten weißen Glasur und einer Zuckerrose. »Hören Sie.« Sie erhob sich wieder. »Haben Sie vielen Dank. Aber bei uns hat sich im Ablauf was geändert.«
»Ist das die falsche Adresse?« Der Mann schielte auf einen Zettel. »Bertram Street eins.«
»Nein, die Adresse stimmt schon«, sagte Isobel. »Das schon.«
Sie starrte an ihm vorbei zum Lieferwagen, und Niedergeschlagenheit überkam sie. Dieser Tag hätte ein glücklicher Tag sein sollen, voll erwartungsvoller Vorfreude, geschäftigem Treiben und allerletzten Vorbereitungen. Nicht so.
»Das Problem ist«, erklärte sie, »dass wir keinen Hochzeitskuchen mehr brauchen. Können Sie ihn wieder mitnehmen?«
Der Mann lachte höhnisch auf.
»Und den Kuchen den ganzen Tag im Lieferwagen mit rumfahren? Wohl kaum!«
»Aber wir brauchen ihn nicht.«
»Meine Liebe, ich fürchte, das ist nicht mein Problem. Sie haben ihn bestellt – wenn Sie ihn zurückgeben wollen, dann ist das eine Sache zwischen Ihnen und der Firma. Wenn Sie jetzt bitte einfach hier unterschreiben« – er drückte ihr einen Kuli in die Hand –, »ich hole die restlichen Schachteln.« Isobel riss den Kopf hoch.
»Die restlichen? Herrje, wie viele denn noch?«
»Insgesamt zehn.« Der Mann sah auf seinem Zettel nach. »Einschließlich Ständern und Zubehör.«
»Zehn«, wiederholte Isobel ungläubig.
»Das ist eine Menge Kuchen.«
»Ja«, sagte Isobel, während er zurück zu seinem Lieferwagen verschwand. »Vor allem für gerade mal vier Personen.«
Als Olivia die Treppe hinunterkam, standen die weißen Schachteln bereits ordentlich aufgestapelt in einer Dielenecke.
»Wusste nicht, was ich sonst damit machen soll«, erklärte Isobel, die aus der Küche kam.
Sie sah ihre Mutter an und erbleichte. Olivias Gesicht war eine wilde Mischung aus grellem Make-up und Todesblässe. Sie klammerte sich fest an das Geländer und sah aus, als könne sie jeden Augenblick zusammenklappen.
»Ist dir nicht gut, Mummy?«
»Geht gleich wieder«, erwiderte Olivia mit merkwürdiger Heiterkeit. »Ich habe bloß nicht viel geschlafen.«
»Da bist du nicht die Einzige. Wir sollten uns alle noch mal ins Bett legen.«
»Tja, nun. Daraus wird wohl nichts, oder?« Olivia lächelte Isobel angespannt an. »Wir müssen eine Hochzeit absagen. Telefonate führen. Ich habe eine Liste gemacht!«
Isobel zuckte zusammen.
»Mummy, ich weiß, wie schwer das für dich ist.«
»Auch nicht schwerer als für alle anderen.« Olivia reckte das Kinn. »Warum sollte es für mich schwerer sein? Schließlich ist das nicht das Ende der Welt, oder? Schließlich ist es nur eine Hochzeit!«
»Nur eine Hochzeit«, sagte Isobel. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass es so einfach ist.«
Gegen elf klopfte es an Millys Tür.
»Bist du wach?«, erkundigte sich Esme. »Isobel ist am Telefon.«
»Oh.« Milly setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihr dröhnte der Kopf, ihre Stimme klang wie die einer Fremden. Sie versuchte, Esme anzulächeln. Aber ihr Gesicht fühlte sich trocken und alt an, und ihr Hirn kam nicht in Schwung. Was ging überhaupt vor? Warum wachte sie in Esmes Haus auf?
»Ich hole das Handy.« Esme verschwand.
Milly sank aufs Kissen zurück, starrte zu Esmes pistazienfarbener Decke empor und fragte sich, warum ihr alles so unwirklich vorkam. Und dann erinnerte sie sich schlagartig. Die Hochzeit war geplatzt.
Die Hochzeit war geplatzt. Sie ließ sich den Gedanken versuchsweise durch den Kopf gehen und wartete auf einen Stich im Herzen, einen erneuten Tränenausbruch. Aber sie hatte keine Tränen mehr, sie war innerlich ganz ruhig, die schmerzlichen Gefühle vom Vorabend hatte der Schlaf gedämpft. Und doch konnte sie es nicht fassen. Die Hochzeit – um die sich in den letzten Wochen alles gedreht hatte – würde nicht stattfinden. Wie war das möglich? Wie konnte der Mittelpunkt ihres Lebens einfach verschwinden? Es kam ihr vor, als wäre der Gipfel, zu dem sie hinaufgestiegen war, plötzlich verschwunden, und sie wäre zurückgeblieben, allein an die Felsen geklammert, desorientiert über die Felskante lugend.
»So, hier bitte«, sagte Esme, die wieder an ihrem Bett erschienen war. »Hättest du gern einen Kaffee?«
Milly nickte und nahm das Telefon.
»Hi«, sagte sie mit kratziger Stimme.
»Hi«, ertönte Isobels Stimme am anderen Ende der Leitung. »Alles okay mit dir?«
»Ja, ich schätze schon.«
»Hat Simon sich schon gerührt?«
»Nein.« Milly sprach schneller. »Wieso? Hat er …«
»Nein«, sagte Isobel rasch. »Nein, hat er nicht. Ich habe mich nur gefragt. Für den Fall.«
»Oh. Tja, nein. Ich habe geschlafen. Ich habe mit niemandem gesprochen.«
Eine Pause trat ein. Milly sah zu, wie Esme die Vorhänge öffnete und sie mit dicken, geflochtenen Kordeln zurückband. Es war ein strahlender, klirrend kalter Tag. Esme schenkte Milly ein Lächeln und verließ dann auf leisen Sohlen den Raum.
»Isobel, es tut mir wirklich leid«, sagte Milly langsam. »Dass ich dich da so mit reingeritten habe.«