Simon schwieg.
»Ich würde es dir nicht verübeln«, meinte Harry. »Was war ich bloß für ein Scheißvater.« Simon rutschte verlegen auf seinem Sitz herum.
»Du …«
»Du brauchst jetzt nicht höflich zu sein«, unterbrach ihn Harry. »Ich weiß, dass ich alles falsch gemacht habe. Sechzehn Jahre lang hast du mich nie gesehen, und dann plötzlich, peng!, hast du mich ständig vor der Nase. Kein Wunder, dass alles ein bisschen schwierig war. Hätten wir geheiratet, dann wären wir längst wieder geschieden. Entschuldige«, sagte er nach einer Pause. »Heikles Thema.«
»Schon okay.« Simon wandte sich zu ihm um und grinste ihn widerwillig an, dabei bemerkte er zum ersten Mal die Kleidung des Vaters. »Dad, dir ist doch klar, dass du dich eigentlich ausziehen solltest?«
»Für ein Dampfbad, ja«, entgegnete Harry. »Aber ich bin hier reingekommen, um mich zu unterhalten.« Er runzelte die Stirn. »Okay, meinen Teil habe ich jetzt aufgesagt. Jetzt musst du mir sagen, was für ein wunderbarer Vater ich gewesen bin, und dann kann ich in Frieden ruhen.«
Es entstand eine lange Pause.
»Ich wünschte bloß …«, begann Simon schließlich und brach dann ab.
»Was?«
»Ich wünschte bloß, ich käme mir nicht immer wie ein Versager vor«, brach es aus Simon hervor. »Alles, was ich mache, geht schief. Und du … In meinem Alter warst du schon Millionär!«
»Stimmt doch gar nicht.«
»In deiner Biografie steht …«
»Ach, dieses Scheißbuch. Simon, als ich in deinem Alter war, da hatte ich eine Million Schulden. Zum Glück habe ich eine Möglichkeit gefunden, sie zurückzuzahlen.«
»Und ich nicht«, versetzte Simon bitter. »Ich habe Pleite gemacht.«
»Okay, du hast also Pleite gemacht. Aber zumindest bist du dir immer treu geblieben. Zumindest kamst du nie heulend angerannt, damit ich dir aus der Patsche helfe. Du hast deine Unabhängigkeit bewahrt. Mit aller Macht. Und deswegen bin ich stolz auf dich.« Er machte eine Pause. »Ich bin sogar stolz, dass du mir die Schlüssel für die Wohnung zurückgegeben hast. Hab zwar die Schnauze voll – aber ich bin stolz.«
Eine lange Pause trat ein, unterbrochen nur von ihrer beider Atmen im heißen Dampf und dem einen oder anderen Spritzer, wenn ein Schwall warmer Tropfen auf den Boden fiel.
»Und wenn du versuchst, die Dinge mit Milly ins Reine zu bringen«, fuhr Harry bedächtig fort, »anstatt davonzurennen – dann bin ich sogar noch stolzer. Das ist nämlich etwas, was ich nie getan habe, aber eigentlich hätte tun sollen.«
Eine Weile schwiegen sie. Harry lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und zuckte zusammen. »Ich muss sagen, das ist keine schöne Erfahrung. Mir klebt die Unterhose am Leib.«
»Ich hab’s dir ja gesagt.«
»Ich weiß.« Harry blickte ihn durch den Dampf hindurch an. »Du gibst Milly also noch eine Chance?« Simon atmete scharf aus.
»Natürlich. Wenn sie mir noch eine gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was gestern Abend in mich gefahren ist. Ich war dumm. Ich war ungerecht. Ich war bloß ein …« Er brach ab. »Ich habe vorhin versucht, sie anzurufen.«
»Und?«
»Sie muss mit Esme essen gegangen sein.«
»Esme?«
»Ihre Patentante, Esme Ormerod.«
Harry zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist Millys Patentante? Esme Ormerod?«
»Ja«, sagte Simon. »Wieso?« Harry zog eine Grimasse.
»Eine merkwürdige Frau.«
»Wusste gar nicht, dass du sie kennst.«
»Bin ein paarmal mit ihr ausgegangen. Großer Fehler.«
»Warum?« Harry schüttelte den Kopf.
»Ach, egal. Ist schon lange her.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Sie ist also Millys Patentante. Das überrascht mich.«
»Sie ist irgendeine Kusine oder so.«
»Und dabei schien mir das eine so nette Familie zu sein«, sagte Harry halb im Scherz. Dann runzelte er die Stirn. »Weißt du, das meine ich ernst. Sie sind eine nette Familie. Milly ist ein bezauberndes Mädchen. James scheint ein sehr anständiger Kerl zu sein. Würde ihn gern besser kennen lernen. Und Olivia …« Er öffnete die Augen. »Nun, was soll ich sagen. Sie ist eine feine Frau.«
»Du sagst es«, meinte Simon mit einem Grinsen.
»Zu dunkler Nacht würde ich ihr allerdings nicht gern begegnen.«
»Oder überhaupt in der Nacht.«
Kurzes Schweigen. Harry tropfte der Schweiß vom Kopf.
»Die Einzige, bei der ich mir nicht sicher bin«, sagte Simon nachdenklich, »ist Isobel. Sie gibt einem irgendwie Rätsel auf. Ich weiß nie, was sie gerade denkt.«
»Nein«, sagte Harry nach einer Pause. »Ich auch nicht.«
»An Milly reicht sie nicht ran. Aber ich mag sie trotzdem.«
»Ich auch«, sagte Harry mit leiser Stimme. »Ich mag sie sehr.« Eine Weile starrte er wortlos zu Boden und erhob sich dann abrupt. »Ich habe genug von dieser Hölle. Ich nehme jetzt eine Dusche.«
»Versuch doch diesmal, dich vorher auszuziehen«, riet Simon.
»Ja. Kluge Idee.« Er nickte Simon freundlich zu, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Als Rupert sich steif erhob, Allans Brief wegsteckte und das Museum verließ, war es bereits später Nachmittag. Eine Weile stand er am Trafalgar Square, beobachtete die Touristen, Tauben und Taxis, wandte sich dann um und ging gemächlich zur U-Bahn. Jeder Schritt wirkte unsicher und zittrig; er schien einen lebenswichtigen Teil seiner selbst verloren zu haben, der ihn im Gleichgewicht gehalten hatte.
Er wusste bloß, dass die eine Gewissheit in seinem Leben verschwunden war. Jetzt schien es ihm, als sei alles, was er in den letzten zehn Jahren getan hatte, Teil eines inneren Kampfes gegen Allan gewesen. Der Kampf war zu Ende, aber keiner von ihnen hatte gewonnen.
Auf der Rückfahrt nach Fulham starrte er ausdruckslos auf sein Spiegelbild im dunklen Glas und fragte sich mit einer fast schon akademischen Neugierde, was er als Nächstes tun würde. Er fühlte sich müde, zerrissen und erschöpft, als hätte ein Unwetter ihn ohne einen klaren Ausweg an einen fremden Strand gespült. Einerseits war da seine Frau. Da waren sein Zuhause, sein altes Leben und die alten Kompromisse, inzwischen seine zweite Natur. Nicht ganz Glück, aber auch nicht direkt Leid. Auf der anderen Seite war Ehrlichkeit. Rohe, schmerzliche Ehrlichkeit. Und alle Konsequenzen, die damit einhergingen.
Rupert fuhr sich müde über das Gesicht und betrachtete seine verschwommenen, unsicheren Gesichtszüge in der Fensterscheibe. Er wollte weder ehrlich noch unehrlich sein. Er wollte gar nichts sein. Eine Person in einer U-Bahn, die nichts entscheiden musste, nichts zu tun hatte, außer dem Fahrgeräusch der Bahn zu lauschen und die unbekümmerten Gesichter anderer Passagiere zu beobachten, die Bücher und Zeitschriften lasen.
Aber schließlich erreichte der Zug seine Haltestelle. Und wie ein Roboter griff er nach seiner Aktentasche, erhob sich und trat auf den Bahnsteig. Er folgte all den anderen Pendlern die Treppe hinauf in den dunklen Winterabend hinaus. Eine vertraute Prozession bewegte sich die Hauptstraße entlang, verkleinerte sich, je öfter Leute abbogen, und Rupert folgte ihnen. Je mehr er sich seinem Zuhause näherte, umso langsamer wurde er, und als er die eigene Straße erreichte, blieb er ganz stehen und erwog einen Augenblick kehrtzumachen. Aber wohin gehen? Er konnte nirgendwo sonst hin.
Beim Öffnen des Gartentors bemerkte er erleichtert, dass im Haus kein Licht brannte. Er würde ein Bad nehmen und ein paar Drinks kippen, dann wäre sein Kopf bis zu Francescas Heimkehr vielleicht schon klarer. Vielleicht würde er ihr Allans Brief zeigen. Oder vielleicht nicht. Er griff in seiner Tasche nach dem Schlüssel und steckte ihn ins Schloss, dann stockte er. Der Schlüssel passte nicht. Er zog ihn heraus, betrachtete ihn und versuchte es abermals – wieder nichts. Dann, bei genauerem Hinsehen, konnte er erkennen, dass das Schloss bearbeitet worden war. Francesca hatte es austauschen lassen. Sie hatte ihn ausgeschlossen.