»Na gut.« James atmete scharf aus. »Na gut, aber wenn Sie nichts verraten haben, wer dann?«
»Weiß der Himmel. Wer weiß denn noch davon?«
Schweigen.
»Sie hat es Esme erzählt«, meinte James schließlich. Er und Olivia sahen einander an. »Sie hat es Esme erzählt.«
Isobel saß in einer entlegenen Ecke der Auffahrt zur Pinnacle Hall und betrachtete durch ihre Windschutzscheibe Millys Zelt, das hinter der Hausecke gerade eben sichtbar war. Schon seit einer halben Stunde saß sie so da und sammelte still ihre Gedanken, schärfte ihre Konzentration wie für ein Examen. Sie würde Harry sagen, was sie zu sagen hatte, würde so wenig Einwände wie möglich dulden, dann gehen. Sie wäre freundlich, aber bestimmt. Wenn er ihren Vorschlag ablehnte, würde sie … Isobels Gedanken gerieten ins Stocken. Einen solch vernünftigen Plan konnte er nicht ablehnen. Unmöglich.
Sie blickte auf ihre Hände, die von der Schwangerschaft offenbar schon angeschwollen waren. Allein das Wort ließ sie wie einen Teenager erschauern. Schwangerschaft, so hatte man ihnen in der Schule beigebracht, kam einer Atombombe gleich – sie zerstörte alles, was ihr in den Weg kam, und das Leben, das ihre Opfer danach führten, war kaum noch lebenswert. Sie zerstörte Karrieren, Beziehungen, das Glück. Das Risiko war es einfach nicht wert, hatten die Lehrerinnen gepredigt, und die Schülerinnen der Oberstufe hatten gekichert und die Nummern von Abtreibungskliniken weitergereicht. Isobel schloss die Augen. Vielleicht hatten ihre Lehrerinnen recht. Ohne diese Schwangerschaft wäre ihre Beziehung zu Harry vielleicht zu etwas mehr als dem einen oder anderen Stelldichein herangereift. Allmählich war der Wunsch in ihr erwacht, öfter mit ihm zusammen zu sein, Augenblicke der Freude und des Leids mit ihm zu teilen, beim Aufwachen seine Stimme zu hören. Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie ihn liebte.
Aber jetzt war da das Baby. Ein neues Element, eine neue Gangart: ein neuer Druck auf sie beide. Das Baby zu behalten hieße, Harrys Wünsche mit Füßen zu treten und das Ende ihrer Beziehung heraufzubeschwören. Und doch würde es sie zerstören, etwas anderes zu tun.
Mit blutendem Herzen griff sie in ihre Handtasche und kämmte sich noch einmal das Haar, dann öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Es war überraschend mild und windig, fast frühlingshaft. Ruhig marschierte sie über den Kies zu der großen Eingangstür, ausnahmsweise einmal ohne Angst haben zu müssen, argwöhnisch beobachtet zu werden. Heute hatte sie allen Grund zu kommen.
Sie klingelte an der Tür und lächelte das rothaarige Mädchen an, das aufmachte.
»Ich hätte gern mit Harry Pinnacle gesprochen, bitte. Ich bin Isobel Havill. Die Schwester von Milly Havill.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte das Mädchen in nicht sehr freundlichem Ton. »Ich nehme an, es geht um die Hochzeit? Oder, besser gesagt, um die Hochzeit, die nun nicht stattfindet?« Sie starrte Isobel mit hervortretenden Augen an, als wäre alles ihre Schuld, und Isobel fragte sich erstmals, was die Leute jetzt wohl von Milly halten mochten.
»Stimmt. Wenn Sie ihm einfach nur sagen könnten, dass ich da bin.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er abkömmlich ist.«
»Vielleicht könnten Sie ihn fragen?«, schlug Isobel höflich vor.
»Warten Sie hier.«
Nach ein paar Minuten kehrte das Mädchen zurück.
»Er kann Sie sehen«, sagte sie, als erwiese sie Isobel eine große Gnade. »Aber nicht lange.«
»Hat er das gesagt?« Ihr Gegenüber schwieg herausfordernd, und Isobel lächelte in sich hinein.
Sie erreichten die Tür zu Harrys Arbeitszimmer, und das Mädchen klopfte an.
»Ja!«, ertönte Harrys Stimme sofort. Sie öffnete die Tür, und Harry sah von seinem Schreibtisch hoch.
»Isobel Havill«, verkündete sie.
»Ja«, sagte Harry, und ihre Blicke trafen sich. »Ich weiß.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte er seinen Füllfederhalter ab und blickte Isobel schweigend an.
Isobel rührte sich nicht. Leicht zitternd stand sie da, spürte seinen Blick wie Sonnenschein auf der Haut und schloss die Augen, um ihre Gedanken sammeln zu können. Sie hörte, wie er aufstand, hörte, wie er auf sie zukam. Seine Hand ergriff ihre; er drückte die Lippen auf die zarte Haut ihres inneren Handgelenks, ehe sie die Augen öffnen und »Nein« sagen konnte.
Er sah auf, ihre Hand noch immer in seiner, und sie blickte verzweifelt in sein Gesicht, bemüht, ihm alles, was sie zu sagen hatte, mit einem einzigen Blick zu vermitteln. Aber in ihrer Miene spiegelten sich zu viele widerstreitende Wünsche und Gedanken, als dass er sie hätte lesen können. Etwas wie Enttäuschung huschte über sein Gesicht, und er ließ ihre Hand abrupt fallen.
»Etwas zu trinken?«
»Ich habe dir etwas zu sagen.«
»Aha. Möchtest du dich setzen?«
»Nein. Ich möchte es bloß sagen.«
»Okay, dann mal los!«
»Schön«, sagte Isobel. »Na denn!« Sie machte eine Pause und wappnete sich. »Ich bin schwanger«, sagte sie, hielt dann inne, und das unheilvolle Wort schien im Raum widerzuhallen. »Mit deinem Kind«, fügte sie hinzu. Harry zuckte leicht zusammen. »Was?«, meinte Isobel kratzbürstig. »Glaubst du mir nicht?«
»Verdammt, natürlich glaube ich dir«, sagte Harry. »Ich wollte sagen …« Er brach ab. »Ach, egal. Red weiter.«
»Du wirkst gar nicht überrascht?«
»Ist das ein Teil deiner kleinen Rede?«
»Oh, sei still!« Sie holte tief Luft, fixierte eine Ecke des Kaminsimses und versuchte nur mit Willenskraft, ihre Stimme ruhig zu halten. »Ich habe gründlich darüber nachgedacht«, sagte sie. »Ich habe alle Möglichkeiten erwogen und bin zu dem Entschluss gekommen, es zu behalten.« Sie machte eine Pause. »Ich habe ihn in dem Bewusstsein gefasst, dass du dieses Kind nicht möchtest. Sie wird also meinen Namen tragen, und ich werde die Verantwortung für sie übernehmen.«
»Du weißt, dass es ein Mädchen wird?«, unterbrach Harry sie.
»Nein«, erwiderte Isobel zittrig, aus dem Takt gebracht. »Ich … ich neige dazu, bei unbekanntem Geschlecht das weibliche Pronomen zu verwenden.«
»Aha«, meinte Harry. »Fahr fort.«
»Ich übernehme die Verantwortung«, redete Isobel, nun schneller, weiter. »In finanzieller wie auch in sonstiger Hinsicht. Aber ich finde, wenn irgend möglich, braucht jedes Kind einen Vater. Ich weiß, du hast dir das nicht ausgesucht – ich aber auch nicht und das Kind ebenso wenig.« Sie hielt inne und ballte die Hände zur Faust. »Und deshalb möchte ich dich bitten, etwas elterliche Verantwortung und Beteiligung zu übernehmen. Mein Vorschlag wäre ein regelmäßiges Treffen, vielleicht einmal im Monat, sodass das Kind seinen Vater kennt, wenn es aufwächst. Um mehr bitte ich nicht. Aber dieses Minimum verdient jedes Kind. Ich versuche lediglich, Vernunft walten zu lassen.« Sie sah auf und hatte unvermittelt Tränen in den Augen. »Ich versuche doch nur, Vernunft walten zu lassen, Harry!«
»Einmal im Monat.« Harry runzelte die Stirn.
»Ja!«, versetzte Isobel wütend. »Du kannst doch nicht erwarten, dass ein Kind eine Beziehung entwickelt, wenn es seinen Vater nur zweimal jährlich sieht.«
»Wohl kaum.« Harry schritt zum Fenster, und Isobel beobachtete ihn ängstlich. Plötzlich wandte er sich um.
»Wie wär’s mit zweimal im Monat? Würde das reichen?«
Isobel starrte ihn an.
»Ja. Natürlich …«
»Oder zweimal die Woche?«
»Ja. Aber …« Harry kam langsam auf sie zu, seinen warmen Blick auf sie geheftet.
»Wie wär’s mit zweimal täglich?«