Und hier war sie nun. Er stieg die breite Treppe hinunter und durchquerte mit einem törichten Lächeln flott die Halle. Aber ehe er sie halb durchquert hatte, öffnete sich die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters, und Harry erschien. Er lachte und gestikulierte zu irgendjemandem im Raum, ein Whiskyglas in der Hand.
»Oh, hallo«, sagte er. »Erwartest du jemanden?«
»Weiß nicht«, erwiderte Simon verlegen. »Milly vielleicht.«
»Ah. Dann verschwinde ich besser.«
Simon grinste seinen Vater an und ließ seinen Blick gedankenlos durch die offene Tür ins Arbeitszimmer schweifen. Zu seinem Erstaunen erhaschte er einen Blick auf ein weibliches Bein am Kamin. Neugierig sah er seinen Vater an. Harry schien kurz zu überlegen, dann schwang er die Arbeitszimmertür weit auf.
Am Kamin saß Isobel Havill. Sie riss den Kopf ruckartig hoch, ein schockierter Ausdruck trat auf ihr Gesicht, und Simon starrte sie überrascht an.
»Simon, du kennst Isobel doch?«, fragte Harry fröhlich.
»Ja, natürlich. Hi, Isobel. Was machst du denn hier?«
»Ich bin hier, um über die Hochzeit zu reden«, sagte sie nach einer Pause.
»Na, das stimmt doch gar nicht«, sagte Harry. »Lüg den Jungen nicht an.«
»Oh«, erwiderte Simon verwirrt. »Nun, das macht doch …«
»Simon, wir müssen dir etwas sagen«, meinte Harry. »Wenngleich das vielleicht nicht gerade der günstigste Zeitpunkt ist …«
»Allerdings«, unterbrach ihn Isobel in entschiedenem Ton. »Wieso geht denn keiner von euch an die Tür?«
»Was habt ihr mir zu sagen?« Simons Herz begann zu hämmern. »Geht’s um Milly?«
Isobel seufzte. »Nein.«
»Nicht direkt«, sagte Harry.
»Harry!« Isobels Stimme klang leicht gereizt. »Simon möchte das jetzt gar nicht hören!«
»Was hören?«, wollte Simon wissen, während die Hausglocke erneut ertönte. Er blickte von einem zum anderen. Isobel sah seinen Vater beschwörend an; Harry grinste augenzwinkernd zurück. Simon starrte die beiden an, die in einer wortlosen, intimen Sprache miteinander kommunizierten, und plötzlich ging ihm ein Licht auf.
»Jetzt geht endlich an die Tür. Egal, wer!«, sagte Isobel.
»Ich gehe schon«, meinte Simon mit erstickter Stimme. Isobel warf seinem Vater einen wütenden Blick zu.
»Simon, alles okay?«, fragte Harry bedauernd. »Hör mal, ich wollte nicht …«
»Schon okay.« Simon sah nicht zurück. »Schon okay.«
Er ging an die Haustür und riss sie mit bebender Hand ungeschickt auf. Ein Fremder stand davor. Ein hoch gewachsener, gut gebauter Mann mit blondem Haar, das unter der Lampe wie ein Heiligenschein leuchtete, und blutunterlaufenen blauen Augen voll Kummer.
Simon sah den Fremden enttäuscht an, von den Ereignissen zu verblüfft, um zu sprechen. Er musste erst noch verdauen, was er gerade erfahren hatte. Wie oft hatte er seinen Vater und Isobel zusammen gesehen? Fast nie. Aber vielleicht hätte allein das schon ein Hinweis sein müssen. Wenn er besser aufgepasst hätte, wäre ihm dann etwas aufgefallen? Wie lange hatten sie überhaupt schon eine Affäre miteinander? Und wo zum Teufel war Milly?
»Ich bin auf der Suche nach Simon Pinnacle«, sagte der Fremde schließlich. In seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Trotz mit. »Sind Sie das zufällig?«
»Ja.« Simon riss sich mit aller Gewalt zusammen. »Das bin ich. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Sie werden mich nicht kennen.«
»Aber ich, glaube ich«, sagte Isobel, die hinter Simon erschien. »Ich glaube, ich weiß genau, wer Sie sind.« Ein ungläubiger Ton stahl sich in ihre Stimme, als sie ihn ansah. »Sie sind Rupert, stimmt’s?«
Giles Claybrook und Eleanor Smith standen am Altar der St. Edward’s Church und blickten einander wortlos an.
»Nun.« Pfarrer Lytton lächelte die beiden wohlwollend an. »Gibt es einen Ring oder zwei?«
»Einen.« Giles sah auf.
»Giles möchte keinen Ehering tragen«, erklärte Eleanor, und ein Anflug von Verärgerung zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Ich habe versucht, ihn umzustimmen.«
»Ellie, Liebes«, meldete sich Eleanors Onkel, der sie von hinten mit einer Videokamera filmte. »Könntest du ein Stück nach rechts gehen? Super.«
»Ein Ring.« Lytton machte sich eine Notiz auf dem Programm. »Nun, in diesem Fall …«
Jemand rüttelte an den Hintertüren der Kirche, und er wandte sich überrascht um.
Die Tür schwang auf, und James, Olivia und Alexander kamen herein.
»Verzeihen Sie«, sagte James und marschierte flott den Mittelgang entlang. »Wir müssen uns nur kurz mit Pfarrer Lytton unterhalten.«
»Dauert nicht lang«, meinte Olivia.
»Tut uns leid, wenn wir stören«, setzte Alexander fröhlich hinzu.
»Was soll das?«, fragte Giles und blickte den Gang entlang.
»Mrs. Havill, ich habe zu tun!«, donnerte Lytton. »Warten Sie freundlicherweise hinten!«
»Nur eine Minute«, sagte James. »Wir müssen bloß eines wissen – wer hat Ihnen von Millys erster Hochzeit erzählt?«
»Wenn Sie versuchen wollen, mich zu diesem späten Zeitpunkt noch davon zu überzeugen, dass die Information unwahr ist …«, begann Lytton.
»Haben wir nicht vor«, meinte James ungeduldig. »Wir müssen es nur wissen.«
»War er es?« Olivia deutete auf Alexander.
»Nein«, erwiderte der Pfarrer. »Und wenn Sie jetzt bitte so freundlich wären …«
»War es meine Kusine Esme Ormerod?«, fragte James.
Schweigen.
»Es wurde mir vertraulich erzählt«, erklärte der Pfarrer schließlich etwas gezwungen. »Und ich fürchte …«
»Ich betrachte das als Bestätigung, dass sie es war.« James ließ sich auf die nächste Kirchenbank fallen. »Ich kann’s nicht fassen. Wie konnte sie? Und dabei ist sie Millys Patentante! Da, um ihr zu helfen und sie zu beschützen!«
»Allerdings«, bemerkte Lytton streng. »Und hätte es Ihrer Tochter etwa geholfen, wenn ihre Patentante tatenlos zugesehen hätte, wie sie vorsätzlich eine Ehe eingeht, die auf Lügen und Unaufrichtigkeit gründet?«
»Was sagen Sie da?«, meinte Olivia ungläubig. »Dass Esme versucht hat, in Millys bestem Interesse zu handeln?«
Pfarrer Lytton deutete mit einer kleinen Geste seine Zustimmung an.
»Nun, dann sind Sie verrückt!«, schrie Olivia. »Sie hat aus Boshaftigkeit gehandelt, und das wissen Sie auch! Eine infame Unruhestifterin ist sie, nichts weiter! Wissen Sie, ich habe diese Frau nie leiden können. Ich habe sie durchschaut, von Anfang an.« Sie nickte zu James. »Von Anfang an.«
Lytton hatte sich Giles und Eleanor zugewandt.
»Verzeihen Sie diese ungebührliche Unterbrechung. Nun lassen Sie uns endlich fortfahren. Das Geben und Entgegennehmen des Ringes.«
»Momentchen«, meldete sich Eleanors Onkel. »Ich spule das Video zurück, ja? Oder soll ich das alles drauflassen?« Er machte eine Geste zu James und Olivia. »Wir könnten es an eine TV-Show schicken.«
»Nein, verflixt, das könnten wir nicht«, brauste Eleanor auf. »Fahren Sie fort, Pfarrer.« Sie warf Olivia einen boshaften Blick zu. »Wir ignorieren diese unverschämten Leute.«
»Nun gut«, meinte Lytton. »Giles, nun werden Sie den Ring auf Eleanors Finger stecken und mir nachsprechen.« Er hob seine Stimme. »Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau.«
»Mit meinem Leib verehre ich dich.«
Als die altehrwürdigen Worte ertönten, schienen sich alle zu entspannen. Olivia hob den Blick zur Gewölbedecke und sah dann zu James. Ein wehmütiger Ausdruck trat auf ihr Gesicht, und sie setzte sich neben ihn. Beide beobachteten, wie Alexander nach vorn schlich und ein diskretes Foto von Lytton schoss, der versuchte, die Videokamera zu ignorieren.
»Erinnerst du dich an unsere Hochzeit?«, fragte sie ihn leise.
»Ja.« Vorsichtig erwiderte er ihren Blick. »Was ist damit?«
»Nichts. Ich habe mich bloß gerade … daran erinnert. Wie nervös ich war.«