»Was war es denn dann?«
»Ich weiß nicht«, meinte Milly vage. Sie dachte einen Augenblick nach. »Ein Geheimnis ist etwas, das man verbergen muss. Aber das war mehr wie … etwas aus einer anderen Welt. Etwas, das in dieser Welt nie wirklich existiert hat.« Sie starrte aus dem Fenster. »Ich denke immer noch ein bisschen so darüber. Wenn es niemand herausgefunden hätte, dann hätte es auch nicht existiert.«
»Du bist verrückt.« Isobel blinkte nach links.
»Bin ich nicht!« Milly deutete auf ihre Füße, die in pinkfarbenes Wildleder gehüllt waren. »Übrigens, wie gefallen dir meine neuen Schuhe?«
»Sehr hübsch.«
»Spottbillig. Simon würde sie hassen.« Aus ihren Worten war leichte Genugtuung herauszuhören. »Hab mir auch schon überlegt, ob ich mir nicht die Haare abschneiden lasse.«
»Gute Idee«, sagte Isobel geistesabwesend.
»Ich will sie mir bleichen lassen. Und mir einen Nasenring anbringen lassen.« Sie grinste Isobel an. »Oder so was.«
Als sie sich Pinnacle Hall näherten, wurde Milly plötzlich ihrer Umgebung gewahr, und sie versteifte sich.
»Isobel, was machen wir?«
»Wir fahren nach Pinnacle Hall.«
»Das sehe ich. Aber wieso?«
Eine Weile gab Isobel keine Antwort.
»Ich denke, wir sollten warten, bis wir dort sind«, sagte sie schließlich.
»Ich möchte Simon nicht sehen«, meinte Milly, »falls es das ist, was du denkst. Wenn du irgendein Treffen arrangiert hast, das kannst du vergessen. Ich will ihn nicht sehen.«
»Weißt du, er ist heute Nachmittag vorbeigekommen, um sich zu entschuldigen. Er hat dir Blumen mitgebracht. Aber Esme hat ihn nicht reingelassen.« Sie drehte sich zu Milly um. »Na, willst du ihn jetzt sehen?«
»Nein«, erwiderte Milly nach einer Pause. »Es ist zu spät. Er kann seine Worte nicht wieder rückgängig machen.«
»Also, wenn du meine unmaßgebliche Meinung hören willst«, sagte Isobel, als sie sich den Toren von Pinnacle Hall näherten, »ich glaube, dass es ihm aufrichtig leidtut.«
»Mir egal.« Als der Wagen knirschend die Auffahrt entlangfuhr, rutschte Milly tiefer in ihren Sitz. »Es macht mir nichts aus, Harry zu sehen«, sagte sie. »Aber Simon? Nein danke.«
»Schön«, sagte Isobel ruhig. »Seinetwegen fahren wir sowieso nicht her.« Sie stellte den Motor ab und sah Milly an. »Mach dich auf einen Schock gefasst.«
»Was?« Doch Isobel war schon ausgestiegen und marschierte auf das Haus zu. Zögernd stieg Milly ebenfalls aus und folgte ihr über den knirschenden Kies. Automatisch hob sie den Blick zu Simons Zimmer an der linken Hausecke. Die Vorhänge waren zugezogen, aber sie konnte einen dünnen Lichtstreifen sehen. Vielleicht stand er dahinter und beobachtete sie. Beklommen beschleunigte sie ihren Schritt und fragte sich, wovon Isobel wohl gesprochen hatte. Als sie sich der Eingangstür näherten, ging diese plötzlich auf, und im Schatten erschien eine hoch gewachsene Gestalt.
»Simon!«, rief Milly spontan.
»Nein«, ertönte Ruperts gedämpfte Stimme gut hörbar in der Abendluft; als er weiter vortrat, wurde unter dem Licht sein blondes Haar sichtbar. »Milly, ich bin’s.« Überrascht blieb Milly stehen.
»Rupert?«, meinte sie ungläubig. »Was machst du denn hier? Du warst doch in London.«
»Ich bin mit dem Zug hergekommen. Ich musste dich sehen. Bei dir zu Hause war niemand, also bin ich hier.«
»Dann hast du es ja wohl schon gehört.« Milly trat von einem Fuß auf den anderen. »Es ist alles ans Licht gekommen. Die Hochzeit ist geplatzt.«
»Ich weiß. Deswegen bin ich hier.« Er rieb sich das Gesicht, dann sah er auf. »Milly, ich habe Allan für dich ausfindig gemacht.«
»Du hast ihn gefunden? Schon?« Millys Stimme hob sich aufgeregt. »Wo ist er? Ist er mitgekommen?«
»Nein.« Rupert ging langsam auf sie zu und ergriff ihre Hände. »Milly, ich habe schlechte Nachrichten. Allan ist … Allan ist tot. Er ist vor vier Jahren gestorben.«
Fassungslos sah Milly ihn an. Es war, als hätte man ihr einen Eimer eiskaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Das war einfach nicht wahr. Allan konnte nicht tot sein. Leute seines Alters starben nicht. Das war lächerlich.
Während sie Rupert anstarrte, erwachte in ihr unvermittelt der Wunsch loszukichern, das Ganze in den Scherz zu verwandeln, der es sicher war. Doch Rupert lächelte oder lachte nicht. Er sah sie mit seltsamer Verzweiflung an, als warte er auf eine Reaktion, eine Antwort. Milly zwinkerte ein paarmal und schluckte, die Kehle plötzlich wie ausgedörrt.
»Was … wie?«, brachte sie heraus. Bilder von Autounfällen kamen ihr in den Sinn. Von Flugzeugkatastrophen, übel zugerichteten Wrackteilen im Fernsehen.
»Leukämie«, erklärte Rupert.
»Er war krank?« Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Er war krank, die ganze Zeit über?«
»Nicht, als wir ihn kannten. Erst danach.«
»Hat er … war es sehr schlimm?«
»Offenbar nicht.« Aus Ruperts Stimme konnte man heraushören, wie sehr er insgeheim litt. »Aber ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei.«
Eine Weile sah Milly ihn wortlos an.
»Das kann doch einfach nicht sein«, sagte sie schließlich. »Er hätte nicht sterben dürfen.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das ist so schrecklich ungerecht.«
»Ja«, erwiderte Rupert mit bebender Stimme. »Das ist es.«
Sie starrte ihn einen Augenblick an, und Tausende gemeinsamer Erinnerungen schienen zwischen ihnen hin und her zu wandern. Dann, aus einer Regung reinsten Instinkts heraus, breitete sie die Arme aus. Rupert fiel ihr halb entgegen und vergrub seinen Kopf an ihrer Schulter. Milly hielt ihn fest umschlungen und sah zum tintenblauen Himmel hinauf. Tränen verschleierten ihr den Blick auf die Sterne. Und als sich eine Wolke vor den Mond schob, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie Witwe war.
Als Isobel die Küche betrat, sah Simon argwöhnisch von seinem Platz an dem riesigen Refektoriumstisch auf. Er hielt ein Glas Wein in der Hand, vor ihm lag die Financial Times, aufgeschlagen zwar, aber – wie Isobel vermutete – ungelesen.
»Hi«, grüßte er sie.
»Hi.« Isobel nahm ihm gegenüber Platz und griff nach der Weinflasche. Eine Weile herrschte Stille. Sie musterte Simon neugierig. Er starrte nach unten und mied ihren Blick, als trüge er gerade irgendeinen inneren Kampf aus.
»Tja«, sagte er schließlich. »Du bist also schwanger. Gratulation.«
»Danke.« Sie lächelte ihn zaghaft an. »Ich freue mich wirklich sehr darüber.«
»Gut«, sagte Simon. »Das ist schön«. Er griff nach seinem Glas und trank einen großen Schluck.
»Es wird dein Halbbruder«, setzte Isobel hinzu. »Oder deine Halbschwester.«
»Ich weiß«, war Simons kurze Antwort. Isobel sah ihn mitfühlend an.
»Hast du Probleme damit?«
»Na, ein bisschen schon, wenn ich ehrlich bin.« Simon stellte sein Glas ab. »In einer Minute wirst du meine Schwägerin. Dann plötzlich doch nicht. Dann wirst du mit einem Mal meine Stiefmutter und bekommst ein Kind!«
»Weiß schon«, meinte Isobel. »Es geht alles ein bisschen plötzlich. Tut mir leid. Wirklich.« Nachdenklich nippte sie an ihrem Wein. »Wie willst du mich übrigens nennen? ›Stiefmutter‹ scheint mir doch ein bisschen übertrieben. Wie wär’s mit ›Mum‹?«
»Sehr witzig«, sagte Simon gereizt. Er trank einen Schluck Wein, nahm die Zeitung zur Hand und legte sie wieder fort. »Wo zum Teufel ist Milly? Die brauchen ganz schön lange, findest du nicht?«
»Ach komm. Gib dem Mädchen eine Chance. Sie hat gerade erfahren, dass ihr Mann tot ist.«
»Ich weiß«, sagte Simon. »Ich weiß. Aber trotzdem …« Er stand auf und ging ans Fenster, dann wandte er sich um. »Na, was hältst du von diesem Rupert?«