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Vor Gernots Tür standen zwei Wachen und tranken Wein aus einem großen Krug. Als sie Kriemhild bemerkten, vertrieb die Scham den Glanz der Trunkenheit aus ihren Augen. Der Krug verschwand hinter dem Rücken des einen, beide strafften sich, bemühten sich schwankend um Haltung. Als sie Kriemhild grüßten, war nicht zu überhören, daß sie dem Wein schon geraume Zeit zugeprochen hatten.

»Mein Bruder schickt mich«, sagte Kriemhild und setzte ihr lieblichstes Lächeln auf. »Er hat mich gebeten, ein Schwert aus seinen Gemächern zu holen.«

»Ein Schwert?« Benebeltes Erstaunen erschien auf den Gesichtern der Männer.

»Er und der König wollen sich einen Schaukampf liefern, und Gernot wünscht dafür seine Waffe.«

»Aber, Prinzessin«, meinte der linke Wächter vorsichtig und wischte sich nervös über die rote Nase, »Ihr wißt doch, daß wir Order haben, niemandem Eintritt zu gewähren, solange Euer Bruder nicht den Befehl dazu gibt.«

Zorn blitzte in Kriemhilds Augen. »Ist es denn nicht sein Befehl, den ich Euch überbringe, Dummkopf?«

Die beiden Männer, verdiente Krieger in so mancher Schlacht, zuckten unter der Schelte des Mädchens zusammen. Kriemhild war hochangesehen bei allen in Worms, und kaum einen Mann gab es, der sie nicht im Traum bereits gefreit, sie gar für sich gewonnen hatte. Von ihr zurechtgewiesen zu werden war schmählicher als eine Schelte vom König persönlich; zumal der Wein die Sinne der beiden Wächter berauschte und ihnen die Maid um so herrlicher erschien.

Bald schon erlahmte ihr Widerspruch, und Kriemhild wurde eingelassen. Sie bat um eine Fackel, bevor sie den Wächtern die Tür vor der Nase zuwarf. Der Schein des Feuers zuckte über die Einrichtung des Schlafgemachs, erhellte prachtvolle Wandteppiche, Kerzenleuchter und zahlreiche Truhen. In einer davon verwahrte Gernot seine Waffen, wie Kriemhild wußte.

Als sie wenig später wieder hinaus auf den Gang trat, trug sie das schmucklose Schwert ihres Bruders offen in beiden Händen, tat gar, als ziehe sie die Last der Waffe leicht vornüber. Einer der Wächter erbot sich, an ihrer Statt hinab in den Thronsaal zu gehen, doch Kriemhild lehnte ab und drückte ihm die Fackel in die Hand. Keiner der beiden bemerkte, daß das Bündel unter ihrem Arm an Gewicht gewonnen hatte; zwischen den Stiefeln steckten jetzt zwei von Gernots schärfsten Dolchen.

Ein Besuch in Giselhers Kammer erübrigte sich. Kriemhild hatte jetzt alles, was sie benötigte. Durch lange Korridore eilte sie zu einer hohen Doppeltür, die den Wohntrakt der Burg mit dem Wormser Münster verband. Die mächtige Kathedrale bildete den Südflügel des hufeisenförmigen Burgkerns; in der Mitte lag der dreigeschossige Wohntrakt, im Norden Thronsaal und Burgkapelle. Um ungesehen über den Hof zu einer der Stallungen zu gelangen, mußte Kriemhild einen Weg wählen, der nicht durch die Menge der Feiernden führte.

Im Inneren der Kathedrale roch es nach kaltem Weihrauch, nach Holz und uraltem Stein. Niemand hielt sich hier auf, die Priester feierten mit dem Adel im Thronsaal. Es war stockdunkel, bis auf einen schwachen Abglanz der Hoffeuer, der durch die hohen Fenster hereinfiel. Kriemhild packte ihr Bündel fester und blickte stur geradeaus. Den tiefschwarzen Schatten in Winkeln und Nischen schenkte sie keine Beachtung.

Sie atmete erleichtert auf, als sie das Südportal erreichte und hinaus auf den Johannes-Friedhof huschte. Ein schmaler Weg führte zwischen den Gräbern zum Burgwall, einem kreisrunden Ring aus Häusern, Türmen und Stallungen, der nur vom Haupttor im Osten und dem kleineren Bürgertor im Süden durchbrochen wurde. Obgleich sich überall auf dem Burggelände feiernde Menschen herumtrieben, lag doch der Friedhof still und verlassen da. Lediglich an seinem Rand saßen ein paar Betrunkene am Boden und schmetterten ein Lied, das Kriemhild die Schamröte ins Gesicht trieb. Niemand beachtete sie, als sie zu einem der Ställe eilte, in dem Lavendel, ihr Lieblingspferd, untergebracht war. Die prachtvolle Schimmelstute schnaubte aufgeregt, als Kriemhild aus den Schatten trat, ihr Bündel ins Stroh warf und das Kleid ablegte. Die enganliegende Reithose knirschte leise, als Kriemhild prüfend in die Knie ging, um das selten getragene Leder zu dehnen. Dann streifte sie ihre Schuhe ab und schlüpfte in die Stiefel. Ihr langes blondes Haar faßte sie straff mit einem Band zu einem Pferdeschwanz zusammen, den sie am Hinterkopf zu einem Knoten feststeckte. Zuletzt schob sie die beiden Dolche in die Stiefel, eine Klinge in jeden Schaft, sattelte Lavendel und befestigte Gernots Schwert am Sattelknauf.

Augenblicke später trug der Schimmel sie zum Stall hinaus. Die letzte Hürde waren die Wachen am Bürgertor. In dieser Nacht aber, da ganz Worms die Erlaubnis hatte, im Burghof den Geburtstag des Königs zu feiern, waren die Kontrollen vereinzelt und oberflächlich. Kriemhild hatte sich eine Decke aus dem Stall um die Schultern geworfen und die Ränder so weit über Lavendels Rücken gezogen, daß sie auch das Schwert bedeckten. Sie senkte den Kopf und tat schläfrig, als forderten Wein und Bier ihren Tribut. Sie wagte nicht aufzublicken, als sie die Wachen passierte, und so sah sie nicht, ob man ihr überhaupt Aufmerksamkeit schenkte. Ohne Zwischenfälle verließ sie die Burg und schaute erst wieder auf, als die hohe, zinnengekrönte Ummauerung hinter ihr zurückblieb.

Die Stadt lag südlich der Burg und bildete am Westufer des Rheins ein dichtes Knäuel aus verschlungenen Gassen, spitzgiebeligen Fachwerkbauten und kleinen, verwunschenen Plätzen. Auch hier wurde gefeiert, und mehr als einmal erntete das junge Mädchen auf seinem weißen Roß unflätige Zurufe betrunkener Kerle. Kriemhild war mehr als erleichtert, als sie die Stadtgrenze unbeschadet hinter sich ließ und zum Ufer des Rheins hinabritt. Der alte Fährmann, der sie schon ungezählte Male zur anderen Seite gebracht hatte, war auch in dieser Nacht auf seinem Posten.

»Wenn das nicht -«, entfuhr es ihm verblüfft, doch Kriemhild schnitt ihm mit einem Wink das Wort ab.

»Schweig«, verlangte sie und setzte freundlicher hinzu: »Ich bitte dich, schweig still. Und stell mir keine Fragen. Bring mich hinüber zum Ostufer.«

»Aber, Prinzessin«, flehte der Alte, »das kann nicht Euer Ernst sein. Niemand will in diesen Tagen dort hinüber. Im Osten wütet die Pest.«

Sie gab keine Antwort und lenkte Lavendel auf die Fähre. Die Hufe der Stute hämmerten lautstark über das Holz.

Der alte Fährmann öffnete den Mund, um weiter auf sie einzuwirken, dann aber bemerkte er den entschlossenen Ausdruck auf Kriemhilds Gesicht. Er war weise genug, um zu wissen, daß junge Mädchen ihres Alters auf ihren eigenen Willen beharrten, und er erkannte auch, daß jeder Widerspruch ihren Entschluß nur gefestigt hätte.

»Ich sah ein herrliches Feuerwerk am Himmel«, sagte er statt dessen, während er die Fähre vom Ufer löste. Das breite Floß bot Platz für zehn Pferde und war an zwei Seilen verankert, die quer über den Strom führten. Mit Hilfe einer mächtigen Kurbel, die ihrerseits eine komplizierte Mechanik aus hölzernen Zahnrädern antrieb, brachte der Alte die Fähre in Bewegung. Unter seinem Wams schwollen Muskeln, die manchen Jüngling mit Neid erfüllt hätten. Schon glitt die Fähre hinaus auf den Rhein. Das Wasser spülte schwarz und eisig um den hölzernen Rumpf, als verlangten die Flußgeister Einlaß.

Als Kriemhild schweigend zum anderen Ufer starrte, sagte der Alte noch einmaclass="underline" »Ich sah ein Feuerwerk, das schönste, das mir je vor die Augen gekommen ist. Graubart ist ein Meister seines Fachs.«

»War«, verbesserte Kriemhild düster.

»Wie meint Ihr das?«

»Graubart ist tot. Die schönste Flamme, die du gesehen hast, die hellste Sonne, der gleißendste Stern - das war Graubart Ungestüm, Graubart Himmelsglut, Graubart der Narr.«

»Ihr redet schlecht von einem Toten.«

Sie schüttelte den Kopf, als gelte es, ein Schreckgespenst aus ihrem Schädel zu vertreiben. Zum ersten Mal sah sie den Fährmann an und lächelte. »Verzeih mir, mein Freund. Das wollte ich nicht. Es ist nur...« Und sie verstummte erneut.