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»Sprecht, wenn Ihr mögt, Prinzessin. Von mir erfährt niemand ein Wort, und hier draußen auf dem Fluß ist keiner sonst, der Euch hören könnte.« Sie sah ihm an, daß er es ehrlich meinte.

»Es ist nur«, begann sie noch einmal, »daß ich Angst habe.« Plötzlich kicherte sie, aber es klang gereizt, nicht fröhlich. »Ich könnte nicht vom Pferd steigen, selbst wenn ich wollte. Meine Beine würden mich kaum tragen, so zittern sie.«

Der Fährmann verharrte und hielt die Kurbel fest. Die Strömung wollte das Floß nach Norden zerren; die Wellen brausten und tobten vor Wut. »Wenn es die Pest ist, die Euch ängstigt, warum wollt Ihr dann -«

»Weil ich es muß, verstehst du?« Sternenlicht brach sich in ihren Augen, und der Fährmann fragte sich betrübt, ob es Tränen waren, die da blitzten. »Ich muß es tun.«

Und fortan sprach Kriemhild kein Wort mehr. Nicht, während die Fähre weiterglitt zur anderen Seite; nicht, als der Rumpf über Uferkies knirschte.

Traurig blickte der Fährmann ihr nach, als sie die Rampe emporritt, ihrem Roß die Stiefel in die Flanken hieb und eilig davongaloppierte, dem Heerweg nach Osten, den Wäldern, der Plage entgegen.

»Prinzessin!« rief er ihr nach, als sie nur noch ein vager Fleck in der Finsternis war. »Ich wünsche Euch -«

Aber da war sie schon fort, und der Fluß übertönte den Ruf mit Strudeln und Wispern, mit dem glucksenden Lachen der Strömung.

Sie folgte der Heerstraße nach Osten, tiefer ins Dickicht des Odenwaldes. Die Pest hatte selbst Räuber und Wegelagerer vertrieben. Niemand begegnete ihr in dieser Nacht, keiner hielt sie auf. Kriemhild war nicht wohl dabei, die bucklige, gepflasterte Straße zu benutzen, aber sie wußte auch, daß dies ihre einzige Möglichkeit war, ans Ziel zu gelangen. Sie kannte sich in dieser Gegend nicht aus, weniger noch, je tiefer sie in die Wälder ritt. Die Straße würde irgendwann in Würzburg enden, doch die Stadt wollte Kriemhild umgehen; dort sollte die Pest besonders übel wüten. Zudem galt: Um so weniger Menschen ihrer angesichtig wurden, desto besser für sie.

Sie überließ den Rhythmus der Reise gänzlich ihrem Roß. Der Schimmel sollte verschnaufen, wenn ihm danach war. Lavendel war eines der besten Tiere im königlichen Stall, Erschöpfung und Hunger waren ihm fremd, und so ritten sie die Nacht hindurch und auch den ganzen Tag. Erst als die Dämmerung hereinbrach, wurde der Trab des Pferdes langsamer. Kriemhild ließ das brave Tier an einem Waldsee trinken und vom Gras am Wegesrand fressen, so lange es nur mochte. Dann legte sie sich abseits der Straße, hinter einem schützenden Kiefernhain, zur Ruhe.

Ehe sie einschlief, dachte Kriemhild, daß es seltsam war, wie prächtig sich doch die sommerliche Landschaft rund um sie erstreckte, der tiefe, kühle Odenwald auf seinen sanften Bergrücken und in düsteren, einsamen Tälern. Von den Boten der Plage, die das Land heimsuchte, war nirgends etwas zu entdecken. Sie hatte Schwärme schwarzer Krähen erwartet, Rattenrudel überall, auch wildes Getier, das sich an Toten labte, doch da war nichts dergleichen. Selbst von Leichen keine Spur. Das machte ihr ein wenig Hoffnung, und als der Schlaf sie endlich übermannte, hatte sie zum ersten Mal seit ihrer Abreise ein wenig von der nagenden Angst verloren.

Der Morgen kam schnell und mit Sonnenschein, der die Wipfel der Wälder mit Gold übertünchte. Nach einem Frühstück aus Beeren wischte Kriemhild den Tau von Lavendels Fell und machte sich erneut auf den Weg. Der zweite Tag ihrer Reise hatte begonnen, sie fühlte sich ausgeruht und frisch.

Bis zum Mittag hatte sie bereits ein gutes Stück zurückgelegt, und Kriemhilds Laune besserte sich mit jeder Hügelkuppe, die hinter ihr zurückblieb. Sie dachte an Worms und an den Aufruhr, den ihr Verschwinden erregt haben würde. Sie hatte einen kurzen Brief auf dem Schreibpult am Kammerfenster zurückgelassen, in dem sie weder Ziel noch Sinn ihrer Reise angegeben hatte; nur daß sie bald zurückzusein hoffe, stand darin geschrieben, zusammen mit den besten Wünschen an ihre drei Brüder und ihre Mutter Ute.

Sie wußte natürlich, daß Gunther toben würde und daß Gernot und Giselher zur Suche nach ihr aufbrechen würden. Freilich würde niemand auf die Idee kommen, sie habe sich ausgerechnet ins Herz der Pestepidemie aufgemacht. Vielleicht würde man den Fährmann befragen, und sicher würde er dann die Wahrheit erzählen, doch bis dahin war ihr Vorsprung viel zu groß.

Wie es aussah, war sie vor Verfolgern vorerst sicher. Zumindest, so lange sie ihre Reise zügig und ohne unnötige Unterbrechungen fortsetzte. Und, immerhin, sie war bereit, ihr Leben für das eines ganzen Volkes zu geben, für das gesamte Reich von Burgund. Ihre Sache, dessen war sie gewiß, war eine gerechte, die jedes Opfer wert war. Auch jenes, das sie selbst zu bringen gedachte. Sie hatte nie einer Menschenseele davon erzählt, und wenn es nach ihr ging, sollte auch in Zukunft niemand davon erfahren. Sie folgte nur ihrem Instinkt, nicht dem Verstand, aber etwas sagte ihr, daß sie das Richtige tat. Und das einzig Mögliche.

Es war am frühen Nachmittag, als sie aus der Ferne am Wegrand ein Anwesen entdeckte. Im Näherkommen erkannte sie, daß es ein Gasthaus war, mit einem Pferdestall als Anbau. Ein wettergegerbtes Holzschild schaukelte knirschend im warmen Sommerwind. Tür und Fenster waren geschlossen, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Ein zäher, süßlicher Geruch lag in der Luft, ein wenig wie von gekochten Rüben.

Erst als sie auf einer Höhe mit dem Haus war, sah sie den schwarzen Stoffetzen, der am Knauf des Eingangs angebracht war. Das Zeichen, daß in diesen Mauern die Pest umging.

Kriemhild stieg nicht vom Pferd und lenkte Lavendel auf die andere Straßenseite.

»Ist da wer?« rief sie so laut sie konnte zum Gasthaus hinüber.

Nichts regte sich.

»He da!« versuchte sie es noch einmal. »Eine Reisende erbittet Auskunft!«

Die Antwort war Schweigen. Nur das Schild über der Tür knarrte leise, als eine neuerliche Brise es schräg stellte.

Kriemhild war drauf und dran, den Schimmel weiterzutreiben, doch ihre Neugier überwog. Wie konnte sie etwas besiegen, das ihr nie von Angesicht zu Angesicht begegnet war?

Sie sprang aus dem Sattel und band Lavendel an einen Baum. Dann überquerte sie die verlassene Straße und näherte sich zögernd dem Gasthaus. Der Rübengeruch wurde stärker. Noch einmal blieb sie stehen, zweifelte an ihrem Tun. Dann trat sie entschlossen an ein Butzenfenster rechts der Tür und preßte das Gesicht ans Glas. Im Inneren herrschte düsteres Zwielicht. Sie konnte nur zwei oder drei Schritte weit sehen, bis zu den vorderen der langgestreckten Tische. Darauf lag etwas, reglos und still.

Kriemhild zuckte zurück. Der Geruch schien ihr schlagartig durch jede Pore zu dringen, verklebte ihren Mund, ihre Augen, ihre Nase. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, sie würde nie wieder atmen können.

Es waren Kinder. Die Leichen von Jungen und Mädchen, mindestens ein halbes Dutzend allein auf den vorderen Tischen. Die Menschen aus den umliegenden Wäldern, Holzfäller, Köhler und Wilddiebe, mußten ihre Kinder hierhergebracht haben, vielleicht, weil sie geglaubt hatten, sie seien hier sicherer als draußen im einsamen Tann. Vielleicht hatten sie gehofft, hier würden die Kleinen alle Hilfe bekommen, die sie nötig hatten.

Jetzt aber lebte hier niemand mehr. Irgendwer mußte die Körper auf den Tischen aufgebahrt haben. Wahrscheinlich war er selbst längst tot.

Kriemhild warf sich herum, löste Lavendel vom Baumstamm und zog sich hinauf in den Sattel. In rasendem Galopp sprengte das Tier mit ihr von dannen, schnell, immer schneller. Es war, als würde der Geruch ihr folgen, eine giftige Wolke Verwesungsgestank, der sie über die Heerstraße jagte wie ein hungriges Ungetüm. Kriemhild fürchtete, jetzt, wo ihr der Gestank einmal bewußt geworden war, würde er sie nie wieder loslassen. War es möglich, daß bereits das ganze Land so roch, und sie es nur nicht bemerkt hatte?