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Unermüdlich trug Lavendel sie weiter, die Hügel hinauf und hinunter, bis es ihr vorkam, als läge das halbe Burgundenreich zwischen ihr und dem Gasthaus der toten Kinder. Schließlich riß sie an den Zügeln des Schimmels und übergab sich aufs Pflaster, brach Beeren und Galle hervor und hoffte, der entsetzliche Gestank des Todes würde mit ihrem Mageninhalt zu Boden prasseln.

Doch der Geruch blieb, ganz wie sie befürchtet hatte. Er durchzog die Wälder, füllte die Täler und umwogte die Bergspitzen wie Wolkenringe. An manchen Stellen wurde er schwächer, doch niemals verschwand es gänzlich. Kriemhild hatte das Gefühl, als hätte der Geruch sich in ihrer Kleidung verfangen, doch es war die einzige, die sie hatte. Sie verfluchte sich für ihr Ungeschick, nichts zum wechseln eingepackt zu haben.

Gegen Abend, die Sonne stand tief hinter den Tannenspitzen, kam sie an ein Ufer. Sie versuchte, sich die Karten in Erinnerung zu rufen, doch die meisten waren ungenau und Kriemhild hatte sie nie so eingehend studiert, wie ihre Lehrer es von ihr verlangt hatten. Mochte sein, daß dies schon der Fluß Tauber war, eher aber wohl eines der schmaleren Gewässer, die diese Gegend von Süden nach Norden durchzogen. Die Strömung schien nicht allzu stark, und das gegenüberliegende Ufer war nicht fern. Doch im Dämmerlicht war schwer auszumachen, wie tief der Fluß war; schon wenige Armlängen vom Rand entfernt konnte sie keinen Grund mehr erkennen.

Die Heerstraße endete an einigen Holzpflöcken, die aus dem dunklen Wasser ragten. Jetzt, bei genauem Hinsehen, entdeckte Kriemhild auch weitere Bretter und Latten, die die Oberfläche durchbrachen oder sich treibend zwischen einigen der Pfählen verfangen hatten. Hier mußte einst eine Brücke gewesen sein. Wahrscheinlich hatten Menschen aus dem Osten, auf der Flucht vor der nachrückenden Plage, sie zerstört, um zu verhindern, daß Kranke diese Seite des Flusses erreichten. Wie erfolgreich dieser Plan gewesen war, hatte das Gasthaus gezeigt. Vermutlich hatten die Flüchtlinge selbst die Seuche eingeschleppt.

Bald darauf fand Kriemhild unweit der Straße den Leichnam eines Mannes. Sommerwärme und die Tiere des Waldes hatten bereits ihre Spuren hinterlassen, er mußte schon Tage hier liegen. Der Brückenwächter, nahm sie an und wandte sich angewidert ab. Sie hatte früher schon Tote gesehen, sogar ihren eigenen Vater, König Dankrat, und auch häßliche Krankheiten hatte es gelegentlich im Schloß gegeben. Trotzdem war ihr Leben weitgehend wohlbehütet verlaufen, und der Anblick des Todes, mehr noch der Verwesung, traf sie zutiefst.

Eine Weile blickte sie ratlos übers Wasser und überlegte, wie sie auf die andere Seite gelangen könnte. Ihr Ziel lag nordöstlich, falls ihr Orientierungssinn sie nicht täuschte. Es blieb ihr keine andere Möglichkeit, als am Ufer des Flusses entlangzureiten und eine Furt zu suchen.

Die Sonne war gerade hinter den Wäldern verschwunden, und ein goldroter Schein floß über den Himmel, als sie jenseits einer Flußkehre Stimmen vernahm. Alarmiert lenkte sie Lavendel dichter an den Waldrand, ließ das Tier aber nicht anhalten. Der weiche Uferboden dämpfte die Geräusche der Hufe. Außerdem verriet die Lautstärke der Stimmen und die Aufregung, die daraus sprach, daß die Leute anderes zu tun hatten, als nach Reisenden Ausschau zu halten.

Noch fünfzig Schritte bis zur Flußkehre. Der Boden stieg dort leicht an, ein niedriger Hügel, der seitlich steil zum Fluß hin abfiel. Was immer dort vorne vorging, es spielte sich auf der anderen Seite der Erhebung ab.

Kriemhild brachte den Schimmel erst unterhalb der Kuppe zum Stehen. Dort führte sie ihn einige Schritte in den Wald hinein und band ihn fest. Das Schwert ließ sie am Sattel hängen, sie konnte ohnehin nicht allzugut damit umgehen. Statt dessen zog sie einen von Gernots Dolchen aus dem Stiefel. Ihr Bruder hatte sie gelehrt, wie man einen Gegner damit in Schach hielt, und sie hatte sich als geschickte Schülerin erwiesen. Sie würde es nicht mit einem ausgebildeten Kämpfer aufnehmen können, doch einen frechen Bauernlümmel, vielleicht auch den einen oder anderen Räuber, vermochte sie durchaus in die Flucht zu schlagen.

Geduckt, Muskeln und Nerven gespannt, huschte sie durchs Dickicht, über die Erhebung hinweg und auf der anderen Seite zum Waldrand. Hinter einem Brombeerbusch verharrte sie, erhob sich vorsichtig und spähte über Blätter und Geäst hinweg zum Ufer.

Dort unten, keine zwanzig Schritte von ihr entfernt, war der baumlose Uferstreifen ein wenig breiter. Vier, fünf Mannslängen, schätzte sie. Mindestens zwei Dutzend Menschen hatten sich dort versammelt, einige hielten lodernde Fackeln. Die meisten standen im Halbrund um etwas, das sich am Rand des Gewässers abspielte, etwas, das Kriemhild von hier aus nicht erkennen konnte. Sie würde noch näher heranschleichen müssen.

Wenig später hatte sie sich der Menge so weit genähert, wie es gerade eben möglich war, ohne entdeckt zu werden. Hier gab es keine Sträucher mehr, nur Bäume, hinter denen sie Schutz suchen konnte. Sie entschloß sich, auf einen hinaufzuklettern und das Geschehen von oben zu beobachten.

Flink erklomm sie den Stamm einer Eiche, bis sie zwei Mannslängen über dem Boden auf einer Astgabel hockte. Dichtes Blattwerk schützte sie vor zufälligen Blicken. Schräg unter ihr stand eine Gruppe von sieben Frauen, offenbar die Weiber der Männer am Ufer. Sie betrachteten die Ereignisse am Wasser aus einigen Schritten Entfernung, stachelten die übrigen aber durch Rufe zur Eile auf.

Im Halbrund der Fackelträger, nur eine Armlänge vom Fluß entfernt, lagen zwei Männer am Boden. Der eine, ein junger Kerl mit kurzem, hellem Haar, angetan wie ein Waldbewohner in Grün und Braun, wehrte sich erbittert gegen drei Gestalten, die ihn brutal in den Uferschlamm drückten. Der zweite Mann wehrte sich nicht, ja, er bewegte sich nicht einmal. Etwas an seiner sonderbaren Lage, die Arme und Beine achtlos abgewinkelt, verriet, daß er tot war.

Die Männer und Frauen, die um die beiden am Boden herumstanden, schienen keineswegs Räuber zu sein, wie Kriemhild befürchtet hatte. Mit Ausnahme einiger Knüppel und Dreschflegel waren sie unbewaffnet. Kriemhild hielt sie für Bauern, einfache Dorfbewohner, die aus irgendeinem Grunde Blut geleckt hatten. Vielleicht hatte der Junge sie bestohlen oder sich an einem der hübscheren Mädchen vergriffen.

Kriemhild war schon Zeugin so mancher Hinrichtung geworden - im Burghof zu Worms, beinahe gleich vor ihrem Fenster -, doch eine so sonderbare wie diese hier hatte sie noch nie gesehen.

Der strampelnde Junge wurde mit Hilfe zahlreicher Schläge und Tritte auf den Bauch gerollt und festgehalten. Erstaunt sah Kriemhild, daß der Junge einen Buckel hatte; deutlich hob er sich am linken Schulterblatt unter seinem Lederwams ab.

Zwei andere Männer zerrten jetzt den Toten heran, banden ihn mit Seilen auf den Körper des Jungen, Rücken an Rücken. Als ein Mann mit einer Fackel sich zu dem verschnürten Bündel herabbeugte und höhnisch auf den Wehrlosen einbrüllte, erkannte Kriemhild im zuckenden Feuerschein, daß der Tote mit schwarzen Flecken übersät war. Entsetzen verschlug ihr den Atem. Allmächtiger, diese Menschen berührten ein Pestopfer, als ginge keinerlei Gefahr von ihm aus! Sie mußten wahnsinnig sein - oder bereits angesteckt!

Im selben Moment begriff sie, daß sie von hier verschwinden mußte. Doch als sie nach unten blickte, entdeckte sie voller Grausen, daß sich die Gruppe der Frauen einige Schritte zum Waldrand hin zurückgezogen hatte. Die aufgebrachten Weiber standen nun genau unter Kriemhilds Baum. Wenn eine von ihnen nach oben blickte, war es um Kriemhild geschehen. Schlimmer noch: Es war unmöglich geworden, unbemerkt hinabzuklettern. Sie mußte in den Ästen ausharren, bis alles vorbei war.

Der schreiende Junge und der Tote wurden in einen Kahn geworfen. Einige Männer ruderten ihn geschwind zur Mitte des Flusses. Schwankend stellten sich zwei von ihnen auf, packten den Toten an Armen und Beinen und hoben damit zugleich auch den Jungen von den Planken. Zweimal holten sie Schwung, dann schleuderten sie das armselige Bündel über die Reling ins Wasser. Sogleich verstummten die Schreie des Jünglings; die Leiche schwamm oben, er aber trieb unter Wasser. Jetzt erst begriff Kriemhild, wie perfide diese Art des Tötens tatsächlich war. Es war fraglich, ob der Junge es überhaupt schaffen konnte, sich mitsamt dem Toten im Wasser zu drehen, um dadurch selbst an die Oberfläche zu gelangen. Fraglicher noch war, wie lange er sich so würde halten können, denn die Strömung spielte ihr eigenes Spiel mit ihm. Kriemhild hatte Mitleid mit ihm, ganz gleich, was er verbrochen hatte. Doch sie wußte auch, daß sie nicht das geringste unternehmen konnte, um ihn zu retten.