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»Die Leute aus dem Dorf schienen mir recht lebendig zu sein.«

»Die wenigen, die übrig waren. Aber ich habe das Dorf gesehen. Die vielen Totenfeuer, die schwarzen Fetzen an den Türen. Die zwanzig oder dreißig am Ufer waren nur der armselige Rest.«

»Glaubst du, sie waren schon krank?«

»Einige gewiß.«

»Und wir?«

Er zuckte mit den Achseln. »Warten wir’s ab.«

»Du nimmst den Tod nicht allzu schwer.«

»Noch leben wir, oder? Außerdem fürchte ich den Tod nicht. Die Pest, ja, sicher. Die Krankheit, das Siechtum. Aber nicht das Ende.«

Kriemhild warf noch einen betrübten Blick zum anderen Ufer, aber Lavendel war nirgends zu sehen. Dann trat sie Seite an Seite mit dem buckligen Jungen in den Wald, auf der Suche nach einem Pfad Richtung Osten.

»Warum?« fragte sie nach einer Weile.

»Warum was?«

»Weshalb hast du keine Angst vor dem Tod?«

Da verdüsterte sich sein Blick, und als er sprach, da klang es, als habe sie eine böse Erinnerung in ihm geweckt. »Ich kenne ihn viel zu gut, um ihn noch zu fürchten.«

»Niemand kennt den Tod. Keiner weiß, was einen erwartet, auch du nicht.«

»Ich schon. Ich war da.«

»Du mußt ein fürchterlicher Sänger sein, wenn deine Lügen alle so schlecht sind wie diese.«

Abrupt blieb er stehen. Sein Gesicht war bleich geworden. »Ich war einem Tod so nah wie kein anderer.«

»Einem Tod?« fragte sie verwundert. »Glaubst du denn, es gibt mehrere?«

»Es gibt einen leichten und einen schweren Tod, und wahrscheinlich noch einige dazwischen.«

Kriemhild grinste. »Dann ist dir gewiß der allerschwerste über den Weg gelaufen«, bemerkte sie scharfzüngig. Sie konnte ihn immer noch nicht ernst nehmen.

»Ja.«

»Das dachte ich mir.«

Kopfschüttelnd wollte sie weitergehen, doch er legte ihr eine eiskalte Hand auf die Schulter. Kriemhild schauderte und streifte die Finger eilig ab, wie die Beine einer besonders ekelhaften Spinne.

»Kein Tod«, sagte er leise, »ist so schrecklich wie der, den die Götter selbst einem wünschen.«

Kapitel 2

Jodokus war ein sonderbarer Kauz, daran gab es gar keinen Zweifel. Nach seinem merkwürdigen Gerede über den Tod sprach er eine ganze Weile überhaupt nicht mehr, doch als er schließlich erneut das Wort ergriff, da war er wieder ganz der Alte. Bissig spottete er über Kriemhilds vermeintlich hohe Herkunft, machte ihr aber auch ein paar nette Komplimente. Vor allem ihr Haar hatte es ihm angetan, wiederholt bewunderte er dessen Glanz und ungewöhnliche Länge.

Einmal fragte sie sich, ob er vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sei, verwarf den Gedanken aber hastig. Die Vorstellung, mit einem Verrückten durch die Lande zu ziehen, war mehr als nur unbehaglich.

Sie erreichten bald einen Waldweg, zweifach gekerbt von Wagenrädern. Zwar fanden sie keine wilden Pferde, wie Jodokus versprochen hatte, doch bevor die Nacht vollends hereingebrochen war, stießen sie auf einer Lichtung auf ein einsames Gehöft. Die Bewohner hatten das Anwesen mit einem Großteil ihrer Tiere verlassen, nur auf einer kleinen Koppel standen noch vier alte, magere Mähren. Kein Vergleich zu Lavendel, aber besser als nichts, und bald schon kamen Kriemhild und der verwachsene Sänger schneller auf ihrem Weg nach Osten voran.

Die Sättel, die sie im Stall gefunden hatten, waren unbequem und sperrig, und es dauerte nicht lange, da schmerzten beiden die Hinterteile. Während Jodokus ausgiebig die genaue Natur seines Gesäßschmerzes erörterte, zog Kriemhild es vor, ihr eigenes Leid damenhaft zu verschweigen. Es waren vor allem Kleinigkeiten wie diese, in denen der Unterschied ihrer Herkunft besonders deutlich zutage trat, und Kriemhild fragte sich, wie der Junge allen Ernstes annehmen konnte, es sei vorzuziehen, als Hungerleider statt in reichen Verhältnissen aufzuwachsen. Sie jedenfalls fand es wenig erstrebenswert, jedem dahergelaufenen Fremden ihre peinlichsten Beschwerden zu offenbaren.

Längst lag die Nacht kühl und sternenklar über dem Land, als sie beschlossen, sich endlich zur Ruhe zu legen. Sie hatten mittlerweile die alte Heerstraße nach Würzburg wieder aufgespürt und waren ihr schon geraume Zeit gefolgt. Jetzt aber schlugen sie sich nach rechts ins Unterholz und knoteten die klapprigen Pferde an Zweigen fest. Alsdann legten sie sich auf gegenüberliegenden Seiten eines kleinen Feuers nieder, leidlich weich auf Laub und Gras gebettet. Trockene Tannennadeln knisterten in den Flammen und verbreiteten einen angenehm herben Waldduft.

»Wer übernimmt die erste Wache?« fragte Jodokus, während er einen Haufen Blätter unter seinem Kopf zurechtrückte.

Erste Wache. An so etwas hätte Kriemhild nicht im Traum gedacht. Sie hätte sich schlafen gelegt und Gottes nimmermüder Vorsehung vertraut. Aber natürlich hatte der Sänger recht: Es war klüger, wenn einer von ihnen auf den anderen achtgab.

»Du siehst müde aus«, sagte sie. »Ich bleibe wach.«

Gelinde Empörung lag in seiner Stimme, als er sagte: »Du bist mindestens genauso müde.«

»Mag sein. Aber es gibt eine Menge, über das ich nachdenken muß. Schlaf du nur. Ich wecke dich schon, wenn du an der Reihe bist.«

»Nachdenken?« Er legte seinen Kopf zufrieden auf das Blätterkissen und murmelte mit geschlossenen Augen: »Mir scheint, das edle Fräulein hütet ein kleines Geheimnis.«

Er war eingeschlafen, ehe Kriemhild eine Antwort darauf fand. Eine Weile lang beobachtete sie sein Gesicht im gelblichen Feuerschein, die feinen Falten links und rechts seines Mundes, die nicht vom Lachen stammen konnten. Die schmale Narbe im Mundwinkel schimmerte heller als der Rest seiner Wange, fast als leuchte sie aus sich selbst heraus. So, wie Jodokus dalag, fiel der Buckel auf seinem Rücken kaum auf. Kriemhild fragte sich, wie es sein mochte, wenn man von Kind an unter solch einer Mißbildung litt. Er tat ihr plötzlich leid, und eine Woge unverhoffter Zuneigung überkam sie. Er war so ganz anders als die geckenhaften Hofjünglinge, die sie in Worms kannte, ganz anders auch als die Fürstensöhne und Ritter, die Gunther ihr in regelmäßigen Abstände als Gemahle vorschlug.

Ein fahrender Sänger, einer aus dem Heer der Armen - und dennoch wirkte Jodokus auf seine Weise zufrieden, glücklich sogar, wenn man seine Bemerkungen über den Tod außer acht ließ. Möglich, daß sie einiges von ihm lernen konnte.

Seit Kriemhild aus dem Wasser gestiegen war, hatte sie ihr zerzaustes Haar offen getragen. Jetzt band sie es wieder im Nacken zusammen und erneuerte den Knoten am Hinterkopf. Andere, denen ihr Haar genausogut gefiel wie Jodokus, mochten nicht so zurückhaltend auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers schlafen wie er.

Die Geräusche des nächtlichen Waldes waren unheimlich - die Schreie der Eulen und Käuzchen, das gelegentliche Flattern von Schwingen in den Fichtenwipfeln, das Rascheln im Unterholz -, aber Kriemhild hatte keine wirkliche Angst. Im Grunde war sie von sich selbst überrascht. Sie war hinter den sichersten Mauern des Reiches aufgewachsen, hatte nie im Freien schlafen müssen - und nun lag sie hier, inmitten eines Landstrichs, den die Pest regierte, in einem Wald, der dunkler und tiefer war, als jeder andere, den sie bislang gesehen hatte. An der Seite eines vollkommen Fremden zudem, der aus Verhältnissen stammte, vor denen ihre Ammen und Zofen sie stets gewarnt hatten.

Dennoch verspürte sie keine Furcht, nicht vor Jodokus und nicht vor dem Wald. Sie war ziemlich stolz auf sich.

Als sie bemerkte, daß ihre Müdigkeit trotz der späten Stunde nachließ - die Aufregung, sagte sie sich -, stand sie auf und entfernte sich einige Schritte vom Feuer. Sie wollte zurück zur Straße gehen und das moosüberwucherte Pflaster im Mondlicht betrachten, die Verheißung von Ferne und von Reisen spüren, das seltsame Gefühl der Freiheit, das sie immer stärker überkam.